Georg Kreisler und das Böse

Wenn nicht Liebe – was sonst?

Nora war noch in dem Alter – sie war acht oder neun -, in dem sie auf dem Kindersitz im Auto hinten sitzen musste. Ich hatte aus Versehen den falschen Sender eingestellt, und nach dem Verkehrshinweis lief von Freddy ‚Die Gitarre und das Meer’. Als sie danach meinte „Das war aber mal ein schönes Lied“, fiel mir auf, dass sie womöglich gerade zum ersten Mal bewusst der Musik aus dem Radio zugehört hatte. Normalerweise war das alles in Englisch, ein bedeutungsloses Grundrauschen zum Motorengeräusch, das an ihr vorbeizog wie die langweile Aussicht aus dem Rückfenster.

 

 

Da wurde mir klar, was es für ein Verlust ist, keinen Zugang zu Liedern über die vertraute Sprache zu finden. Und so habe ich Kassetten für sie zusammengestellt, zuerst mit deutschen Schlagern, und weil ich die selber nur mit innerem Grinsen hören konnte, mit ausgesuchten Liedermachern. So entdeckte sie Kreisler. Den fand sie am besten und wollte nur noch ihn.

Die folgenden Kassetten waren reine Kreisler-Kassetten – mit Beschriftungen wie ‚Kreisler total’, ‚Kreisler noch totaler’, ‚Kreisler für immer und ewig’ -, die sie komplett auswendig lernte. Sie war so textsicher, dass wir Ratespiel machen konnten, wie es Kinder in dem Alter so mögen – in diesem Fall ein selbstausgedachtes: Es bestand darin, dass einer ein paar aufeinanderfolgende Worte aus einer Textzeile aufsagte, und der andere raten musste, aus welchem Lied die stammten. Woraus ist „in den bunten Frühling“?

Ich hatte es geahnt: Sprache kann eine unmittelbare Faszination haben. „Wenn man die Monika an ihren Haaren zieht, dann heißt sie Ziehharmonika“, „Man gibt dem Araber sein eignes Dromedar, aber wozu?“

Von so einer Begeisterung haben Erwachsene nur noch Restbestände.

Es war obendrein eine gute Wortschatzübung – „Papa, was ist eigentlich Polygamie?“- und widersprach einer Pädagogik, die meint, man dürfe Kinder nicht überfordern, man müsse vereinfachen, weil sie es sonst nichts verstehen. Sie wollen auch nicht alles verstehen; die Welt ist sowieso voll unerforschter Kontinente, und das soll noch ein Weilchen so bleiben, Kinder genießen das Rätselhafte, und die befreiende Vorstellung, dass alles auch ganz anders sein kann, als es im Moment aussieht: „Der Tag wird kommen, wo die Kälber auf dem Dach stehn“.

So gesehen war es eine erfolgreiche pädagogische Maßnahme – und eine wunderbare Art, mit dem Kind die Zeit zu verbringen. Aber! Da war noch etwas. Ein aufblitzender Anarchismus mit Kälbern auf dem Dach ist bei Georg Kreisler nicht nur Spielerei. Es gab auch Lieder, bei denen ich zurückschreckte und dachte, dass die für ein kindliches Gemüt nicht das Richtige sind. Poetisch durften sie sein. Rätselhaft auch. Voller Wortspiele – gerne! Aber wie steht es mit makabren Liedern? Mit „schwarzem“ Humor?

„Als der Zirkus in Flammen stand, da verbrannte ein Elefant“ – schlimm genug. Wenn es dann noch in Einzelheiten ausgemalt wird, „ohne Laut ging er zugrunde, und er brannte eine Stunde“, dann ist das fies. „Schatz, das Wetter ist wunderschön! Da leid ich’s nicht länger zu Haus.“

Und? Was machen die beschwingten Spaziergänger?

Sie gehen „Taubenvergiften im Park“. Das klingt so leichtfüßig, so heiter, man möchte gleich schunkeln zur Musik. Es gibt ein Foto vom kleinen Georg Kreisler, der etwa in dem Alter war, in dem meine Tochter damals war, das ihn als jungen griesgrämigen Touristen auf dem Markusplatz zeigt, von Tauben umringt. Womöglich fing es damals an mit den „bösen Liedern“.

Die unangenehme Frage, die sich da auftut, lautet: Warum ist der Mensch böse? Kreisler selber fragt sich, warum ausgerechnet diejenigen, die gesellschaftlich ganz weit oben sind, nicht „gut“ sind.

„Warum können führende Menschen auf Erden
nicht freundlicher, selbstloser, menschlicher werden?
Ich hab drüber sehr lange nachgedacht,
und jetzt weiß ich die Lösung, geben Sie Acht:
Diese führenden Menschen: Die sind so mies. Ja, die sind so mies.“
Sie sind böse. Durch und durch. „Sie schrauben dir die Blumen und die Bäume ab und treten dich voll Freude in den Bauch. Sie sind so mies, ach, so schrecklich mies, und sie glauben, alle andern sind es auch.“

Doch wir sollten uns nicht täuschen. Es sind nicht allein die Herrschenden – also die Großen dieser Welt -, die das Böse in sich tragen. Was waren denn das für Zeitgenossen, die heiter losgezogen sind, um Tauben zu vergiften? Leute wie du und ich.

Und wer hat an der Stelle im Publikum so verdächtig laut gelacht?

Es sind weder die Karriere-Hengste, die auf dem steinigen Weg nach oben alle Hemmungen ablegen mussten und erst durch ihren Aufstieg so niederträchtig geworden sind, und es sind nicht die Armen, die nur Opfer ihrer Umstände sind.
Also: Wer ist böse? Und woher kommt es?

Von innen. „Draußen, alles ist so draußen, alles kommt von außen, nur das Böse bleibt im Inneren versteint“, heißt es im Lied ‚Ich kann tanzen’. Jesus sagt es auch – wie Markus berichtet: „Von innen, aus dem Herzen des Menschen, kommen die bösen Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habgier, Bosheit, Hinterlist, Ausschweifung, Neid, Verleumdung, Hochmut und Unvernunft. All dieses Böse kommt von innen.“

Das hören wir nicht gerne. Wir halten uns für unschuldig. Wir halten uns für gut; wir glauben, dass wir auch „edle Wilde“ sind – wie es uns Rousseau eingeflüstert hat –, weil die Natur als das „zweite Buch Gottes“ grundsätzlich gut ist, und so müssen auch die Menschen gut sein und können höchstens durch widrige Umstände – quasi versehentlich – böse werden. So denken wir gerne. Dabei hatte Rousseau selber gewisse Bedenken, er hatte das Böse an Kindern beobachtet und sich gefragt, woher es kommt. Von innen oder von außen?

Inzwischen hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass alles Böse nur eine Reaktion auf erlittenes Unrecht ist. Deshalb müssen wir das Unrecht bekämpfen. Wenn erst das Unrecht aus der Welt ist, dann gibt es auch das Böse nicht mehr. So lautet die simple Lehre, die wir von Karl Marx abgeleitet haben: Der Mensch ist „entkernt“; er ist geprägt von seinen Umständen, vom „Sein“ – neuerdings von Rollenbildern, von Klischees und von stereotypischen Vorstellungen vom Geschlecht.

Wir sind aber böse. Wenn keiner hinguckt. Überwachungskameras haben es ans Licht gebracht. Einen Moment lang hatten die „jugendlichen Gewalttäter“ nicht an die Kameras gedacht, die sie später identifizieren konnten und die bei der Gelegenheit die Fratze des Bösen offenbarten. Die deutschen Soldaten dagegen konnten 1943 nicht wissen, dass sie abgehört werden. Das wurden sie aber. Es wurden geheime Abhörprotokolle erstellt, zumeist von U-Boot-Fahrern, oder von Gefangenen, von denen sie sich militärische Geheimnisse versprachen. So kam es raus. Die Soldaten verplapperten das Ungeheuerliche: Sie haben gerne getötet. Sie nutzten die „Chance der unbestraften Unmenschlichkeit“, wie es Günther Anders nennt.

Je weniger wir dem Menschen die Freiheit zugestehen, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, je weniger wir ihn für seine Taten verantwortlich machen, desto größer ist die Gefahr, dass er vom Bösen überrumpelt wird. Das Böse nistet sich da ein, wo eine Verantwortungslücke entsteht, wo die Ausreden schon vorformuliert sind.

Der Böse aus Norwegen musste sich richtig Mühe geben für seine Ausrede: 1500 Seiten Text. Der Mörder von John Lennon hat sich einfach auf Salinger berufen und aus dem ‚Fänger im Roggen’ zitiert. Darauf kommt es nicht an. Denen diente die Kunst nur als Ausrede.

Für Georg Kreisler nicht – für ihn ist die Kunst ein Weg zur Wahrheit, ein Stresstest für die Ideale. Er stellt sich gerne quer zum Ideal vom „Gutmenschen“, und er könnte sich Goethe – der damit einen Seitenhieb auf das Menschenbild der Philanthropen austeilt -, aus vollem Herzen anschließen und die kleine Zeile aus den ‚Xenien’ mit seiner eigenen Musik unterlegen: „Schwärmer, wie bist du getäuscht, nimmst du die Menschen für gut!“

Wir sind getäuscht. Wir meinen, es besser zu wissen. Wir wissen, woher das Böse kommt, Goethe hin, Goethe her. Unser aktueller Erkenntnisstand sagt uns: Das Böse kommt von außen. Alle, die Harry Potter kennen, haben es mit eigenen Augen im Kino gesehen: Das Böse steht außerhalb vom Menschen und wird verkörpert durch Lord Voldemort.

Man hat oft – eine naheliegende, gleichwohl einfältige Frage – von ihm wissen wollen, ob er selber auch so böse ist, wie das Personal in seinen Liedern. Ob er selber Tauben vergiftet hat.

Natürlich nicht.

Wenn er sich als Beispiel nimmt und in Abgründe blicken lässt, dann will er damit den Menschen einen Spiegel vorhalten, er will sich nicht als Bösewicht stilisieren oder gar das Böse glorifizieren. Gleichzeitig hält er mit einem anspruchsvollen, kulturellen Mantel genau die Werte aufrecht, die dem Bösen entgegentreten und das Böse in die Schranken weisen können. In so einem Ringen um „kulturellen Fortschritt“ sieht auch Sigmund Freud, der sonst nur wenige Möglichkeiten sah, „die aggressiven Neigungen der Menschen“ abzuschaffen, die bescheidene Aufgabe der Kunst, sie kann nicht viel, aber etwas kann sie doch: Sie kann den kulturellen Fortschritt fördern – und damit die Werte der Zivilisation -, sie kann die Identifikation mit dem Menschlichen, das uns alle verbindet, stärken. Und sie kann uns die Liebe nahebringen – „Wenn nicht Liebe, was sonst?!“

So heißt es in einem der Lieder von Kreisler.

Nora hatte es schon früh bei einem abschätzenden Blick über sein Gesamtwerk festgestellt: „Ich glaube, Kreisler ist einfach gegen alles. Außer gegen Liebe.“

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