Deutsche Frauen, deutscher Sang

Es ist schon ein paar Sommer her, da geschah es unvermutet in der S-Bahn, mitten in Berlin: Die Stadt war in trübes Goldlicht getaucht, die ersten Lichter gingen an, obwohl es noch hell war, man hatte irgendwie das Gefühl, dass alle Fenster offen standen und eine angenehme Milde in der Luft lag. Polen ist nicht weit, dort nennt man so eine Dämmerung die „Stunde des Zàl“ und verbindet sie mit einem Gefühl der Wehmut. Doch es lag nicht nur Wehmut in der Berliner Luft, auch eine Ahnung von Glück.

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Leonard Cohen und der Krieg

 

 

 

Am Sonntag, dem 21. September wurde in einer Reihe von transkontinentalen Veranstaltungen (1)* der achtzigste Geburtstag von Leonard Cohen zelebriert. Er selber hat sich diesen Tag als Termin gesetzt, um wieder mit dem Rauchen anzufangen. In dem Filmporträt ‚Beautiful Losers’ (ich weiß nicht, wie lange das schon zurückliegt) lobt er Weiswein und Zigaretten als „wundervolle Drogen“, er tut es in einem durchaus ernsthaften Ton, als hätte er alles durchprobiert und könnte nun nach vorurteilsfreier Prüfung Weiswein und Nikotin als Testsieger empfehlen. Er scheint eine Menge ausprobiert zu haben, einschließlich Alkoholentzug, Zen Buddhismus und Askese.

Offenbar ist er auch im fortgeschrittenen Alter immer noch dabei, in Sachen Drogen, Kunst und Religion verschiedene Möglichkeiten auszutesten.

Einen unfreiwilligen Selbstversuch in Sachen Menschlichkeit hatte Leonard Cohen schon Anfang der siebziger Jahre gemacht, genau gesagt 1973, als er auf die Insel Hydra zurückgekehrt war und das Zusammenleben mit Frau und Kind nicht mehr ertragen konnte (er spricht von einem „Vorhang aus Rasierklingen“, in einem seiner Songs heißt es lakonisch „I live here with a woman and a child, the situation makes my kind of nervous“), er wurde dermaßen kribbelig, dass er der Versuchung nicht länger widerstehen konnte, endlich an einem richtigen Krieg teilzunehmen.

Das wollte er immer schon. Er wollte es schon, als er Anfang der sechziger Jahren kurz vor der Invasion in der Schweinebucht nach Kuba aufbrach, um da eine „Begegnung mit dem Tod“ zu haben, wie er in einem noch älteren Dokumentarfilm erklärt (an den Titel erinnere ich mich jetzt nicht, ich weiß aber noch, dass er in Schwarzweiß ist). Damals hatte seine Mutter hinter ihm her telefoniert, er konnte gerade noch rechtzeitig ausreisen.

Und nun? Wie würde es ihm in seiner, wie er sagt, „mythischen Heimat“ ergehen, wo er schon Konzerte gegeben hatte und wo sich gerade der Jom-Kippur-Krieg anbahnte? In seiner unveröffentlichten Schrift ‚The Final Revision of My Life in Art’ erklärt er, warum es ihn geradezu unwiderstehlich dahin zog: „ … zum Teil, weil es so schrecklich zwischen uns war, dass ich lieber gehen und ägyptische Kugeln mit meinem Körper aufhalten wollte.“

Er nahm Kontakt auf mit dem Sänger Sholomo Semach, der damals bei der Luftwaffe diente, und bat ihn, irgendetwas zu finden, wo er sich nützlich machen konnte. Zusammen mit anderen stellten sie eine kleine Truppe von Unterhaltungskünstlern zusammen, die für die Soldaten in Raketenstellungen, Panzerstellplätzen und Lagern spielte. Die Konzerte waren „formlos und sehr intensiv“, die Künstler wurden einfach mit Taschenlampen beleuchtet. „ … für einen oder zwei Augenblicke“, notierte Cohen, „hält man sein Leben für sinnvoll. Und Krieg ist wundervoll.“ (2)*

Die Künstler überquerten den Suez-Kanal mit Hubschraubern und gaben ein Konzert auf dem Hangar eines Flughafens, der zuvor unter ägyptischer Kontrolle war. Da war es aber nicht so sehr der herzliche Zuspruch der Soldaten, der Cohen berührte, sondern das Elend des Kriegs, den er gerade erst als „wunderbar“ bezeichnet hatte. Er konnte nicht an sich halten, er musste haltlos weinen, als er die vielen verletzten Soldaten sah. Jemand tröstete ihn und bemerkte, dass es alles Ägypter wären. Cohen fühlte sich erleichtert.

Nicht lange.

Fast im selben Moment erschrak er über sich selbst. Was war da gerade mit ihm passiert? Wieso konnte sein starkes Mitgefühl einfach auf „Off“ geschaltet werden, als hätte er einen verborgenen Kippschalter?

Hatte er mit dem Gefühl der Erleichterung nicht zugleich etwas grundlegend Menschliches verloren? Er war „tief verstört“ über die Erfahrung, die er da gerade machen musste.

Wie unzuverlässig waren doch die Gefühle – „I don’t trust my inner feelings. Inner feelings come and go“! Wie leicht konnte einem besonders empfindlichen Menschen wie ihm gerade das, was ihn auszeichnet – nämlich sein Mitgefühl für andere – abhanden kommen!

Er selber hatte die verbindende Menschlichkeit immer wieder beschworen! In ‚Passing Through’ heißt es, dass – egal ob Ami, Russe, Weißer oder Schwarzer – wir alle Menschen sind, das allein diese Zugehörigkeit zählt, wir gehören alle zusammen, denn wir sind alle sterblich, „we’re all on one road and we’re only passing through“. Und nun das! Wie sollte er das verstehen?

War Menschlichkeit etwa gar nicht unser höchstes Gebot? Konnte eine Feindschaft, die womöglich nur vorübergehend war oder auf einem Missverständnis beruhte, die Menschlichkeit ausstechen und sich in der Rangfolge unserer Wertmaßstäbe unbemerkt auf die Pole-Position schmuggeln? Gehörte die sonst so hoch geschätzte und viel beschworene Menschlichkeit womöglich zu dem Ballast, den wir als erstes über Bord werfen, wenn es ernst wird? War „Mitleid“ nur ein Wort zum Sonntag?

In dem Film ‚Bird On A Wire’, der während Cohen-Tournee des Jahres 1972 entstanden ist, wird ununterbrochen geraucht. Es ist ein rührendes Dokument der 70er Jahre. Da gab es noch lange Haare und Liedermacher. Der Film ist so langweilig wie Musikfilme sind und so bewegend wie die Musik von Cohen ist – wenn man sie mag. Es passiert nicht viel. Es gibt Pannen, Pleiten und Applaus. Gegen Ende des Films zitiert Cohen bei seinem Konzert in Jerusalem die Kabbala: „Wenn Adam und Eva sich entzweien“, sagt er, „dann sitzt Gott nicht mehr auf seinem Thron“.

 

 

fussnote

 

 

 

Fußnoten

*(1)
In Berlin fand in der überfüllten Passionskirche ein Geburtstagskonzert statt, bei dem die CD ‚Poem – Leonard Cohen in Deutscher Sprache’ vorgestellt wurden.

Als ich einer Freundin davon erzählte, sagte sie nur „Ihhh!“ Ich kann das gut nachvollziehen. Ich hatte auch meine Bedenken, als ich lesen musste, dass ‚The Gypsy’s Wife’ mit ‚Die Frau des Wanderers’ übersetzt wurde.

Es war aber doch nicht so schlecht. Manfred Maurenbrecher war sogar richtig gut. Er hatte sich die programmatischen Lieder vorgenommen (‚Anthem’, ‚Heart With No Companion’) und brachte damit eine schöne Ernsthaftigkeit in die lockere Runde. Da spürte man nicht nur etwas von dem ungewöhnlichen Vokabular in Cohens Lyrik, sondern auch etwas von seiner Gebrochenheit („broken“ kommt bei Cohen vermutlich so oft vor wie „dunkel“ bei Biermann). Wenn es bei ihm statt „cradle still unfilled“ heißt, dass in der Wiege „nur Sand“ ist, dann ist das richtig so. So geht’s. Die Texte müssen bei einer Übertragung neu gestaltet und ergänzt werden. Sie brauchen einen eigenwilligen, beherzten Zugriff (den sich wahrscheinlich niemand zutraut). Es war jedenfalls ein echter Lichtblick.

Auch Nina Hagen war toll und brachte mit ihrer Version von ‚By The Rivers Dark’ die richtige Dosis Düsternis auf die Bühne.

Aber sonst? Cohens Feinheiten fielen weg, seine Unverschämtheiten ebenso. Es gibt in seiner Poesie drei Zutaten, die immer wieder verstören und die ich mir in einem deutschen Lied nicht so recht vorstellen kann. Es sind aber just diese drei Zutaten, die seine Lyrik hervorheben und zur Weltliteratur machen: die – erstens – unverschämte Erotik und das – zweitens – tiefe Interesse an Religion („remember when I moved in you and the holy dove was moving too … halleluja“) und die – drittens – Faszination für das Militärische („guided by the beauty of our weapons … first we take Manhattan“).

 

** (2)
Krieg ist also wunderbar. Es hat mich immer geärgert, dass Cohen diesen Hang zum Militärischen hat, dass er beispielsweise seine Band „Army“ nannte, sich selbst als „Field Comander“ sieht und Krieg „wunderbar“ findet.

Er ist nicht einzige. Bei Georg Orwell in ‚Mein Katalonien’ steht es auch: Krieg ist wunderbar. Das wollte ich da nicht lesen. Das steht da aber. Außerdem wird auch bei Orwell dauernd geraucht. Was soll ich dazu sagen – als Pazifist? Ich könnte außerdem Nietzsche zitieren. Oder soll ich lieber so tun, als gäbe es solche Stimmen gar nicht? Und wenn wir sie überhören, dann haben wir Frieden – oder wie? Viele tun mit Hingabe so, als gäbe es Krieg überhaupt nicht. Oder als wäre es bloß eine reine Männerveranstaltung, die man schwänzen sollte.

Für solche Fälle empfehle ich Cora Stephans ‚Das Handwerk des Krieges’, das ich gerne und mit großem Gewinn gelesen habe. Es geht mit den Griechen los, mit genau den Schlachten, von denen ich am humanistischen Gymnasium die Daten auswendig gelernt habe. Ich kann es nicht so schön ausdrücken wie es Cora Stephan getan hat, aber so wie ich es verstanden habe, waren die Schlachten damals so etwas wie Elfmeterschießen. Sie wurden geschlagen, um damit eine Entscheidung herbeizuführen. Dann war Schluss. Das „Handwerk“ oder auch die „Kunst“ des Krieges bestand gerade darin, den Krieg einzuhegen und zu begrenzen.

Es gibt in ihrem Buch faszinierende Beispiele vom Bellum Romanum, von edlen Rittern, vom Civil War bis hin zum Ersten Weltkrieg. Sie führt dabei zahlreiche Belege aus der Literatur an, vertraut aber keinem einzigen dieser Texte und fragt selbst noch einmal nach, wo andere vor der Autorität des Namens kuschen würden. So kommt ein reichhaltiges, kritisches Gesamtbild zustande, in dem es auch um die Bedeutung der Männerbünde geht und um die Wahrheit über Testosteron.

Für 2,99 Euro als kindle-Buch ist es ein echtes Schnäppchen. Nie war es so wertvoll wie heute, möchte man sagen, um den bekannten Werbespruch zu verwenden und abzuwandeln. Das Buch ist umso wertvoller, weil z.Zt. ein anderes Standardwerk zu dem Thema, nämlich ‚Frauen und Krieg’ von Martin von Creveld nur erhältlich ist, wenn man tief in die Tasche greift und das Buch antiquarisch erwirbt.

Die Bücher des Militärexperten von Creveld wurden in diverse Sprachen übersetzt; in Deutschland sind sie besonders umstritten. Martin von Creveld ist Jude. Schon in den dreißiger Jahren wurden seine Vorlesungen von radikalen Studenten, denen seine Erkenntnisse nicht nationalsozialistisch genug waren, boykottiert und er wurde aus dem Land gejagt – nein, Quatsch: Seine Vorlesungen wurden im Jahre 2011 gestört und abgesagt, weil er nicht feministisch genug war. An der Uni in Trier.

Noch ein paar Buchtipps:
Die Episode von Cohens unfreiwilligem Selbstversuch habe ich gelesen in: Ira B. Nadel ‚Das Leben Leonard Cohens. Various Positions’, Ulstein 1999

Ich will nicht meckern. Es gibt einen guten literarischen Neustart der Texte von Cohen, den Wolfgang Farkas für den Verlag Blumenbar besorgt hat. Für das ‚Buch der Sehnsüchte’ hat er gleich neun Übersetzer – darunter Wolf Wondraschek und Carl Weissner – angeheuert, was gut zu einem Buch passt, das wie eine Wundertüte oder wie eine Lose-Blatt-Sammlung daherkommt.

Damit wird der Literatur von Cohen ein angemessener Auftritt ermöglicht, er ist nicht länger ein seltsames Pop-Phänomen aus alten Tagen, ein liebenswerter Oldie, den man bei Zweitausendeins zu herabgesetzten Preise kaufen kann. Auch das ‚Lieblingsspiel’ aus dem Jahre 1963 ist im selben Verlag neu erschienen. Es ist selbst nach mehrmaliger Lektüre immer noch eines meiner Lieblingsbücher, aber das liegt womöglich daran, dass ich das berühmtere ‚Schöne Verlierer’ nicht so mochte.

 

Ein neues Lied der Deutschen

 

 

Das deutsche Lied war uns verleidet – es hing mit dem ‚Lied der Deutschen’ zusammen und dem Ballast, der da im Schlepptau mitgeführt wurde. Als Kind hatte ich das schon nicht richtig verstanden.

Unsere Nationalfarben – das wusste ich natürlich – waren Schwarz, Rot und Gold. Und damit fingen schon die Probleme an:

Gold hatte ich nicht in meinem Tuschkasten.

Das Gelb – links oben in der Ecke – war immer zuerst alle. Vielleicht lag es daran, dass man auch beim Farbenverbrauchen links oben anfing oder daran, dass Kinder so viele Sonnen malten, die auch links oben in der Ecke lachten.

Die Fahnen waren auch nicht Gold, sondern Gelb. Das war verständlich. Nach dem Krieg konnte sich kaum einer richtiges Gold leisten, da mussten alle sparen und Gelb nehmen. Das fand ich nicht so schlimm. Doch dann sollten sie auch ehrlich sagen: Unsere Nationalfarben sind Schwarz, Rot und Gelb. Warum nicht?

So war es eben.

Schlimm war, wenn man so tat, als wäre das Gelb in Wirklichkeit Gold, und als hätten wir alle einen Sehfehler, die gefürchtete Gold-Gelb-Blindheit der Deutschen. Das war schlimm. Damit taten wir so, als hätten wir Goldmedaillen gewonnen und hatten das gar nicht. Ich hatte schon immer das Gefühl, dass mit diesem Gold etwas nicht stimmt.

Wir mogelten offiziell.

Mich konnte man aber nicht täuschen. Ich glaubte nicht daran, dass Gelb behelfsmäßiges Gold ist, so wie Bonn die provisorische Hauptstadt war und dass wir eines Tages wieder zu Glanz, Ruhm und Reichtum kämen und uns dann echtes Gold leisten könnten. Dann würden alle Fahnen neu genäht und alle Bücher, in denen die Fahne noch mit Gelb abgebildet war, neu gedruckt werden und die Kinderbilder, bei denen das Gelb für Sonnen und Flaggen verbraucht wurde, würden mit Gold übermalt. Nein. So würde es nicht kommen.

 

Flaggedeutsch

 

Die Hymne war auch ein Problem. Man durfte sie nicht singen. Jedenfalls nicht die erste Strophe. Einmal hatte ich sie trotzdem gehört und gleichzeitig meine Eltern dabei erwischt, wie sie etwas Verbotenes taten. Sie hatten Besuch von Verwandten, von denen sie womöglich angestiftet wurden. Sie feierten irgendwas und vergnügten sich mit einer Erdbeerbowle. Das gefiel mir gar nicht. Ich kannte das schon. Es tat mir in der Seele weh, dass dabei die Erdbeeren zu verboten Früchten wurden. Wie gerne hätte ich die Überreste gegessen, die am nächsten Tag aufgedunsen und traurig in dem Bowleglas schwammen. Ich durfte nicht. Und die Großen wollten nicht und schütteten sie weg.

So durfte man nicht mit Erdbeeren umgehen!

Nicht in der schweren Zeit, in der es an allen Enden und Ecken fehlte. Da musste ich mich auch nicht wundern, dass sich die Großen im Zuge der Erdbeervernichtung zu weiteren strafbaren Handlungen hinreißen ließen, dass sie Witze erzählten, die nicht stubenrein waren, ihre Aufsichtspflicht vernachlässigten und wahrscheinlich dachten, die Kinder würden längst schlafen.

Ich schlief nicht. Ich lauschte.

Da hörte ich sie singen, singen und lachen: „Deutschland, Deutschland unter andern …“ mehr war nicht zu verstehen, weil es im allgemeinen Kichern ersoff. Offenbar war es ein lustiges Lied. Warum war es verboten? Es fing gut an. Die doppelte Nennung von „Deutschland“ gefiel mir. Ob es politische Gründe hatte und sich auf die Teilung des Landes bezog, durchschaute ich nicht. Die Verdopplung war jedenfalls klasse. Sie erinnerte an die Südsee und an Babysprache. Hula Hula, Happa Happa, Balla Balla, Deutschland Deutschland, Plem Plem. Vielleicht wurde deshalb so viel gelacht.

Am nächsten Morgen sortierte ich meine Briefmarken neu. Ich hatte erst vor kurzem mit dem Sammeln angefangen und die deutschen Marken in ein kleines Extra-Album gesteckt. Inzwischen hatte ich ein zweites großformatiges Album „geschonken gekraucht“, wie ich es nannte, weil mich irgendetwas daran hinderte, die korrekte Bezeichnung – „geschenkt gekriegt“ – zu verwenden.

Mein Onkel hatte mir neue mitgebracht, ausländische Marken, die noch nicht abgeweicht waren. Ich sortierte alles neu. Diesmal nach Alphabet. Es fing mit „Argentinien“ an. Deutschland kam – „unter andern“ – unter D: „Deutsches Reich“ und „DDR“, auch „Bundesrepublik Deutschland“, selbst wenn es streng genommen mit B anfing. Die Hitler-Marken versteckte ich sicherheitshalber in einem gebrauchten Briefumschlag. Ich war nicht sicher, ob der Besitz verboten war oder nicht.
In das kleine Album kamen nun die Doppelten.

Erst sehr viel später lernte ich die zweite Strophe kennen. Mir war auf Anhieb klar, warum die unterschlagen wurde und warum sie keiner singen wollte. „Deutsche Frauen, deutsche Treue“ – das fing gar nicht gut an. Ich dachte sofort an Kriemhilds Rache und an die Nibelungentreue. Es ging auch nicht gut weiter mit dem „deutschen Sang,“ den ich nicht so gerne höre und dem „deutschen Wein“, der mir nicht schmeckte, auch wenn ich nun inzwischen so alt war, dass ich mal kosten durfte.

 

„Deutsche Frauen, deutsche Treue,
Deutscher Wein und deutscher Sang
Sollen in der Welt behalten
Ihren alten schönen Klang.“

 

Mit der dritten Strophe hatte ich immer ein Problem: Bei der Stelle „Danach lasst uns alle streben“, musste ich unfreiwillig denken: „Danach lasst uns alle sterben.“ Das ist kein Fall von „misheard lyrics“, wie der, von dem eine Freundin erzählt hat, die statt „the only one who could ever reach me was the son of a preacher man“ immer „the only one who could ever feed me was the son of a pizza man“ verstanden hatte.

Es ist auch kein legasthenischer Hörfehler, sondern eine unvermeidliche Assoziation. Es gab mal einen Werbespruch für ein Medikament, dessen Namen ich vergessen habe, den Spruch habe ich behalten. Der Originaltext heißt: „stärkt den Organismus“; da habe ich immer den Subtext herausgehört: „stärkt den Orgasmus“.

Vielleicht wurden die Anklänge hervorgerufen, weil die Hymne immer zum Sendeschluss gespielt wurde. So kam sie in die Wohnstuben. So war das: Es gab einmal eine Zeit, da gab es noch einen Sendeschluss im Fernsehen. Da ertönte die Hymne, man sah die wehende deutsche Fahne in Schwarz, Rot und Gelb, und dazu die Skyline von Helgoland, dann war Schluss, Licht aus, Ende. Doch auch die Grauen der Vergangenheit schimmerten durch, ich musste an Erschießungskommandos denken, an Todesurteile, die im Namen des Volkes und zum Klang der Hymne vollstreckt wurden.

Mir war es schon lange klar: Wir brauchen einen neuen Text. Die Musik konnte man so lassen. Die ist gut. Berthold Brecht hat eine Version vorgeschlagen, die mir gefällt. Bei der Stelle, an der es um die Liebe zum Land geht, bietet er an: „und das liebste mag’s uns scheinen so wie anderen Ländern ihrs“. Eine gute Lösung für die Unfallstelle „über alles in der Welt“.
Superlative sind heikel – „liebste“ ist noch der beste von allen, der schönste, und wunderbarste Superlativ.

Doch erst dadurch, dass die „anderen“ auch mitbedacht werden und die Möglichkeit, dass es sich um „Schein“ handelt, wird die Sache verträglich. Der Superlativ ist eine Gefahrenstelle. Schon der Komparativ kann eine sein; denn mit dem „Vergleich“ kam, wie Rousseau meinte, das „Übel“ in die Welt, und dieses Übel befeuern solche Hymnen, die einen auffordern, besser zu sein, besser als alle anderen. Am allerbesten. Mit den meisten Goldmedaillen.

Das Gold muss weg. Ich hatte mir schon Gedanken gemacht und gleich gemerkt, dass ein neuer Text alleine nicht ausreicht. Zuerst müssen wir offiziell verkünden, dass unsere Nationalfarben Schwarz, Rot und Gelb sind. Da müssen wir gar nicht weiter auf das Voranschreiten der Finanzkrise warten. Wir können uns jetzt schon zu Gelb bekennen. Dann kann man auch meine Hymne, bei der ich die Anregung von Brecht aufgreife, im Brustton der Überzeugung singen. Ich würde gerne den Anfang der ersten Strophe so lassen wie gehabt, und es soll dann so weitergehen:

 

Deutschland, Deutschland unter anderen
Ländern dieser weiten Welt,
die gemeinsam unterwandern,
was sich für was Bess’res hält.

Weiter bin ich nicht. Bei der zweiten Strophe stecke ich noch in den Anfängen. Doch ich habe mir schon überlegt, was man als Ersatz für das Reizwort „Frauen“ nehmen kann. Da kann man heute nur ins „Fettnäpfchen treten“. Und ich weiß was Besseres als „Treue“.

„Frauen“ möchte ich ersetzen durch „Fußball“. Damit müssten deutsche Frauen, von denen ich sonst nicht wüsste, wie man sie zufriedenstellen soll, leben können. Nach den Erfolgen im Frauenfußball können sie eigentlich nichts dagegen haben.

„Treue“ würde ich ersetzen durch „Reue“. In dem Punkt zeigt Deutschland große Stärken. Bei der Bewältigung der Vergangenheit haben wir einiges aufgeboten; unsere antifaschistischen Kräfte sind unermüdlich, der Kampf gegen die Nazis wird umso leidenschaftlicher geführt, je länger sie tot sind. Die zweite Strophe könnte so anfangen:

 

Deutscher Fußball, deutsche Reue

Mehr habe ich noch nicht. Bei der dritten Strophe möchte ich „Einigkeit“ durch „Einsamkeit“ ersetzen. Nicht dass ich was gegen die Einigkeit mit den Neuen Bundesländer hätte – im Gegenteil. Doch es gibt eine andere Einigkeit, die mich bedrückt: die Gleichschaltung, die alle Frauen und alle Männer so sieht, als wären sie alle gleich und sich alle einig. Immer wenn ich was von „den“ Männern und „den“ Frauen höre, möchte ich in Ruhe gelassen werden und mich ausnehmen.

Dass unser Land im „Glücke“ „blühen“ soll, wie es weiter heißt, klingt zunächst mal gut, aber das „Blühen“ gefiel mir doch nicht, da habe ich immer automatisch das „Verblühen“ mitgedacht und vor meinem geistigen Auge sah ich schon, wie die Blätter fielen, die Blumen ihre Köpfe hängen ließen und die Pflanzen schließlich im Biomüll endeten.

Bei dem Stichwort „Glück“ fiel mir die Redewendung ein, dass jemand „mehr Glück als Verstand“ hatte. Das wollte ich aufgreifen und abwandeln, ich müsste noch ein bisschen dran drehen und einen Schluss finden, bei dem ich unserem Land „sowohl Glück als auch Verstand“ wünsche. Das Blühen entfällt. Auch ein Blühen mit Stilblüte.

Weiter bin ich noch nicht. Immerhin. Ein Anfang ist gemacht. Nur manchmal überkommen mich Zweifel, ob ich der Richtige für diesen Job bin.

Gebt ihm ein F

 

 

 

Lieder unterliegen dem Energieerhaltungsgesetz. Da geht nichts verloren. Lieder bilden unsichtbare Geflechte und heimliche Verbindungen zwischen den Menschen. Und sie rufen Erinnerungen wach. Jeder trägt einen Klimperkasten mit sich herum, in dem der alte Kram versammelt ist: Reime, Werbesprüche und Fetzen von Liedern. Die liegen da auf der Lauer und warten darauf, dass sie aufgerufen werden. Wir haben das nicht vergessen. Es kommt uns manchmal nur so vor.

 

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