Cat Stevens: Father And Son

Väter und Söhne, Mütter und Töchter

 

Fünfzig Jahre sind vergangen. Nicht zu fassen … Kinder, wie die Zeit vergeht. Was hat sich nicht alles getan im Verhältnis der Väter zu den Söhnen und der Mütter zu den Töchtern? Das will ich am Beispiel von zwei Liedern und von zwei Büchern zeigen. Warum auch nicht? Andere lesen das Schicksal der Menschen aus den Handlinien oder aus einem tiefen Blick in die schönen, blauen Augen. Ich halte mich an Worte, die geschrieben und gesungen werden. Bei der Gelegenheit zeigt sich auch, wie sich das Verständnis von dem, was wir unter Emanzipation verstehen, verändert hat.

 

Los geht’s: Ton ab, Musik läuft! Ich beginne – unhöflicherweise – mit dem Verhältnis der Väter zu den Söhnen und rufe als Erstes den Song ‚Father And Son‘ von Cat Stevens (richtiger Name Steven Demetri-Georgiou) in den Zeugenstand. Er wurde vor fünfzig Jahren veröffentlicht und wurde schnell zum Dauerbrenner. Eine Freundin von mir kriegte die Platte gleich drei Mal zu Weihnachten geschenkt, was nicht nur auf die damals aufflammende Begeisterung für Folkmusik, sondern auch auf mangelnde Absprache unter ihren Verehrern zurückzuführen ist (einer davon war ich).

 

Was waren das für Zeiten?! Den Sound würde man heute als „unplugged“ bezeichnen. Man schien einen Moment lang vergessen zu haben, dass man Gitarren auch elektrisch verstärken kann. Cat Stevens hatte sich nach schwerer Krankheit von seinem rauen Image als bewaffneter Rächer (I’m Gonna Get Me A Gun‘) abgewandt und versuchte es nun auf die sanfte Tour mit zarten, mit leisen Tönen. Die akustische Gitarre konnte man mit ins Offene nehmen, auf die grüne Wiese, ans Lagerfeuer, wo es keine Steckdose gab. Das ging auch.

 

Damit wurde nicht etwa ein roter, sondern ein grüner Teppich ausgerollt für ein Lebensgefühl, für das es damals noch keine Partei und noch nicht einmal einen Bioladen gab – es gab nur Reformhäuser. Die undeutlichen Signale aus der Kunst gingen denen aus der Politik voraus. Lieder wie ‚Morning Has Broken’, ,Peace Train’ und ,Where Do The Children Play?’ (hier eine verwackelte Version, vermutlich von 1971, hier eine animierte, bei der Greta bestimmt in Tränen ausbricht) ließen ahnungsvoll eine neue Stimmung anklingen, die bei aller Freundlichkeit im Ton deutlich machte, dass große Veränderungen bevorstanden. Dazu gehörte natürlich auch die Thematisierung des Generations-Konflikts,  wie er in ,Father and Son‘ besungen wird.

 

Das Lied des Vaters

Nach fünfzig Jahren hat Cat Stevens, der sich inzwischen Yusuf (Yusuf Islam) nennt, das Lied noch einmal neu aufgenommen. Wir können uns das hier in einem putzigen Video-Clip ansehen. Es ist immer noch der alte Text: der Vater sagt, er können die innere Unruhe der Jugend zwar verstehen (I was once like are now and I now that it ain’t easy to be calm when you find something’s going on), doch der Sohn solle sich lieber entspannen (just relax and take it easy) und sich an dem Vater ein Beispiel nehmen (I am old, but I’m happy). Er solle sich Zeit nehmen (take your time), gründlich nachdenken (think a lot) und sich von den Gefühlen und utopischen Vorstellungen, die sich in ihm melden und die ihn aufwühlen, nicht hinreißen lassen (you may still be here tomorrow but your dreams may not).

 

 

Das Lied des Sohnes

Der Junge wiederum sieht keine Verständigungsmöglichkeit mehr. Er hat das Gefühl, dass er immer nur zum Zuhören verdammt war (I was ordered to listen) und entschließt sich schließlich, seinen eigenen Weg zu gehen (I know I have to go). Weg vom Vater. Der Junge wird zum Rebellen. Ursprünglich war das Lied für das Musical ‚Revolussia‘ (das jedoch nicht aufgeführt wurde) gedacht, das zur Zeit der russischen Revolution spielt.

 

Das merkt man dem Lied nicht an. Da wird der Junge nur zu einem kleinen Rebellen. Die verständnisvollen Töne dominieren. Wie radikal der Junge sich tatsächlich gegen die Mächte der herrschenden Gesellschaft (damals sprach man vom „Establishment“) aufbegehren würde, blieb offen. Was waren das auch für „Dinge“, die da vor sich gingen (something’s going on)? Der Vietnamkrieg war noch nicht vorbei, die Studentenbewegung noch nicht ganz, die dritte Welle des Feminismus stand uns noch bevor.

 

Vater und Sohn in einer Person 

Wird hier wirklich ein Bruch mit dem Vater gewagt? Es hörte sich eher nach einer Versöhnung an, die auf später verschoben wird. Die beiden Stimmen des Dialogs – also die Stimme des Vaters und die des Sohnes – werden von ein und derselben Person gesungen, zu denselben Akkorden, allerdings in verschiedenen Tonlagen, der Sohn singt eine Oktave höher. Doch der Sänger ist Vater und Sohn gleichzeitig. Mich erinnert das an einen Spruch, den ich im Frauenmuseum in Hanoi gesehen habe, der sinngemäß lautet, dass man erst in dem Moment, wenn man eigene Kinder hat, das Opfer der eigenen Eltern versteht und damit nicht nur ein neues Verhältnis zu den eigenen Kindern, sondern auch zu den Eltern gewinnt.

 

Das Lied des alten Vaters

In einer Aufnahme aus dem Jahr 2020 singt Yusuf weiterhin beide Stimmen – er versucht es jedenfalls, schafft es aber kaum noch, auch wenn er die Gitarre extra einen halben Ton tiefer gestimmt hat. An der Stelle, an der er früher in der Rolle des Sohnes seine Stimme dramatisch erhoben hat, meidet er die Oktave und singt ersatzweise eine etwas höher angesetzte zweite Stimme als Variante. Bei der nächsten Wiederholung schafft er die Oktave dann doch noch mit ein wenig Ach und ein wenig Krach, wie es zur unruhigen Jugend passt.

 

Der junge Cat Stevens hatte als Sohn gesungen (hier sieht man ihn in einer bebilderten Version aus dem Jahre 2018 als singenden Sohn mit einem Großvater, der mit einem Mädchen Schach spielt). Der ältere Yusuf singt als Vater. Es kommen aber jeweils beide Seiten zu Wort. In der allerneuesten, oben erwähnten Version, hören wir eine Montage aus dem Jungen und dem Alten und wir sehen, wie sich der Vater seinen Sohn im Fernsehen anschaut, wie er da gerade die alte Version von ‚Father and Son‘ singt.

 

Letztlich stehen Vater und Sohn recht gut da. Sie haben, wie es aussieht, ihre Konflikte überstanden und einen modus vivendi gefunden. Sie sitzen beide nebeneinander auf einer Treppe, die Fortschritt und Entwicklung symbolisiert, beide mit einem Becher in der Hand. Auf dem Becher des Vaters steht: World’s Best Dad. In einer Ansage aus dem Jahr 2015 beim Festival in Viña stellt Yusuf/Cat Stevens (er führt manchmal beide Namen) den bekannten Spruch, dass ein Sohn ohne seinen Vater nicht da wäre, auf den Kopf und sagt, dass er selber ohne seinen „very good son“ nicht da wäre, wo er jetzt ist. Das wirkt alles recht versöhnlich.

 

 

Mütter und Töchter

Ich hatte angekündigt, auch über Mütter und Töchter zu sprechen. Einen prominenten Kronzeugen wie ,Father And Son‘ kann ich nicht aufbieten, doch es ist keineswegs so, dass das Mutter-Tochter-Thema im Repertoire der alten und neuen Volkslieder und Balladen fehlen würde. Vermutlich kennen die meisten ‚Leave Me Be‘ von Kate & Anna McGarrigle nicht, das genau wie ‚Father And Son‘ beide Seiten – alt und jung – gegenüberstellt. Man muss ein wenig suchen, zu dem Titel gibt es einige irreführende Treffer. Hier jedenfalls ist das ergreifende Lied, was ich meine: ‚Leave Me Be‘, vom Album ‚Heartbeats Accelerating‘ aus dem Jahre 1990, hier dazu der Text. Die beiden Schwestern haben wie Cat Stevens schon in den siebziger Jahren ihre Karriere im Genre „Folk“ begonnen. Auch sie schrieben ihre Lieder selbst. Anna McGarrigle ist im Jahr 2010 gestorben.

 

Der gefährliche Märchenprinz

In dem rührenden Lamento geht es um eine Tochter, die ihren eigenen Weg geht, der sie allerdings ins Unglück führt. Hier sind es Frauenstimmen – man beachte den Plural –, die versuchen, sie davon abzuhalten. Hier sprechen die besorgten Mütter, die Schwestern, die Verwandten, auch wenn sie sich dabei auf den Vater berufen, der mit der Liebschaft der Tochter sowieso nicht einverstanden war (She knew her daddy’d disapprove)

 

Warum war er das nicht? Because he was so bold. Das soll es geben. Frauen fallen gelegentlich auf Schurken rein, auf Gauner, Hochstapler, sogar auf Verbrecher. Nicht nur in Küchenliedern und Folksongs, auch im richtigen Leben. Manche mögen es heiß; sie mögen es, wenn ein Mann „bold“ ist, wenn er etwas Heroisches und Gefährliches an sich hat. Auch das noch: His eyes were like the shining sea, his hair was like black gold. Einfach märchenhaft. Es scheint ihn also doch noch zu geben: den Märchenprinzen. Nur ist sie am Ende des Liedes tot – nicht der Märchenprinz.

 

Die Väter können sich nicht durchsetzen

Die Väter meinen es gut. Sie raten vom wilden Leben ab. Der junge Mann in ‚Father And Son‘ soll mehr von der stoischen Haltung des Vaters übernehmen und sich zur Ruhe setzen (find a girl, settle down). Hat sich der Sohn danach gerichtet? Wir wissen es nicht. Die Tochter hat sich jedenfalls nicht an die Warnungen gehalten, sie folgt einem wilden Mann. In beiden Fällen konnten sich die Väter nicht durchsetzen. Der junge Mann hat dennoch seinen Weg gefunden. Die junge Frau scheiterte tragisch.

 

Der Vater hatte dem Sohn geraten, seinen Verstand zu nutzen (think a lot), die Frauenstimmen hatten die junge Frau davor gewarnt, ihren Gefühlen zu vertrauen. Der Vater sprach als Einzelstimme. Die Schwestern McGarrigle singen zweistimmig. Sie fungieren als … beide Ausdrücke klingen falsch, ich verwende sie daher mit den gebührenden Anführungsstrichen … als „Klageweiber“, als „griechischer Chor“, als „Stimme der Gemeinschaft“. Sie ermahnen die frisch Verliebte, dass sie danach beurteilt werden wird, in welcher Gesellschaft sie sich befindet und dass das Urteil, das eine Gemeinschaft fällt, den einzelnen nicht erkennen kann: They’ll judge you by your company they cannot see beyond. Be careful who you choose in life. And stay where you belong.

 

Emanzipation für Männer

Was zeigt uns die Gegenüberstellung? Wo sind die Unterschiede? Ich halte sie für bedeutend und aufschlussreich: Für den Jungen gilt der einzelne – der Vater – als Vorbild. Für das Mädchen ist die Zugehörigkeit zur Gruppe entscheidend. Das verrät uns gleichzeitig etwas über den Wandel unserer Vorstellung von Emanzipation und von einem Paradigmenwechsel, der uns wegführt von dem Blick auf das Individuum hin zu der Frage, welche Gruppenzugehörigkeit jemand hat. Wir haben es – wenn man mir diese ruppige Formulierung durchgehen lässt – einerseits mit einer „Emanzipation auf Männerart“ und andererseits mit einer „auf Frauenart“ zu tun. Einmal geht es um einen individuellen Vorgang, einmal um Gruppenzugehörigkeiten, die mehr Gewicht haben als die Wünsche eines einzelnen.

 

Ursprünglich bedeutete Emanzipation, dass der Sohn von der schützenden Hand (hier steckt das Wort „manus“) des Vaters befreit wurde, weshalb unter Emanzipation auch Befreiung verstanden wird. Der Sohn wird in die Selbständigkeit entlassen. Er ist nun frei und kann seine eigenen Entscheidungen treffen, die nicht mehr von denen des Vaters abhängig sind. Diese Art der Emanzipation ist eine Fortsetzungsgeschichte: Der emanzipierte Sohn kann nun seinerseits eine Familie gründen und irgendwann später seinen Sohn, der sich dann wiederum von ihm emanzipiert, in die Selbständigkeit entlassen.

 

 

Frei wovon? Frei wozu?

Wenn man Emanzipation als Befreiung auffasst, stellt sich die Frage: Freiheit wovon? Und: Freiheit wozu? In unserem Fall haben wir es mit der Freiheit von der Bevormundung durch den Vater einerseits zu tun und mit Freiheit zur Eigenständigkeit – zur Freiheit, selbst Entscheidungen zu treffen und zu verantworten.

 

Diese Unterscheidung ist keineswegs eine Nebensache. Auch wenn das M.A.Numminen meint, der in seinem Lied: ‚Ich will frei sein‘ sogar eine Kurve zu Aristoteles kratzt. Der schräge Tango-König aus Finnland (beachten Sie dazu auch die diversen Musik-Tipps in: „Die spinnen, die Finnen“) hat, wie manche sagen, rein äußerlich große Ähnlichkeit mit mir, ansonsten haben wir aber schon unterschiedliche Geschmäcker, und ich bin durchaus der Meinung, dass die Unterscheidung von „Freiheit wozu“ und „Freiheit wovon“ keine Nebensache ist. Wenn man sich zwischendurch ein wenig amüsieren möchte und sowieso findet, dass meine Texte zu lang sind, dann empfehle ich eine kleine Pause. Ein Zwischenspiel. Wer mag, kann sich, ehe wir zur Emanzipation für Frauen kommen, sein Lied in voller Länge anhören: ‚Ich will frei sein‘. Es ist sehr viel tiefsinniger als das Lied mit dem gleichen Titel von Helge Schneider – und ist auch irgendwie witzig.

 

Emanzipation für Frauen

Ich will gar nicht erst darauf eingehen, dass in „Emanzipation“ das Wort „man“ steckt (was ja auch nicht stimmt) … ich gucke gleich bei Wikipedia nach und lese: „Heutzutage steht der Begriff häufig synonym für die Frauenemanzipation.“ Aha. Wir erfahren auch, wohin uns die Frage nach dem wozu führen soll: „Ziel emanzipatorischen Bestrebens ist ein Zugewinn an Freiheit oder Gleichheit (im Sinne von Gleichberechtigung oder Gleichstellung)“.

 

Das „oder“ irritiert mich. Ein Zugewinn an Freiheit oder Gleichheit – wie soll ich mir das vorstellen? Was denn nun? Soll das etwa eine Freiheit werden, in der Gleichheit, Gleichberechtigung und sogar Gleichstellung (???) vorherrschen – kurz: eine Welt, die durch Gruppenzugehörigkeiten bestimmt wird und in der die Freiheit des einzelnen auf der Strecke bleibt? Nicht nur das: Gruppenbildungen leben von Feindbildern (umso mehr, je weniger ein echter, eigener Zusammenhalt vorhanden ist). Tribalismus bringt keinen Frieden. In so einer Welt wird die Ablehnung derer, die nicht dazugehören, verstetigt.

 

Fortsetzungsgeschichte oder Endstation?

Wie schaffen wir denn nun den erstrebenswerten Zugewinn? Auch das weiß Wikipedia: „ … meist durch Kritik anDiskriminierung oder hegemonialen z. B. paternalistischen Strukturen, oder auch die Verringerung von z. B. seelischer, ökonomischer Abhängigkeit, etwa von den Eltern.“

Eben da zeigt sich der Unterschied: Wir haben es hier nicht mehr mit einer dynamische Fortsetzungsgeschichte zu tun, bei der eine neue Autorität entsteht, von der sich wiederum die nächste Generation befreien kann, hier soll überhaupt keine neue Vaterrolle mehr entstehen. Vielmehr soll die schützende Hand des Vaters, die als „diskriminierend“, „hegemonial“ und „paternalistisch“ beschrieben und zugleich abgewertet wird, grundlegend kritisiert und abgelöst werden durch das Ideal der Gleichheit. Von so einer Gleichheit wird man sich allerdings nicht mehr befreien können. Endstation.

 

Die Emanzipation des Sohnes orientiert sich am Vater und eine kritische Auseinandersetzung mit ihm ermöglicht es dem Sohn, für sich selbst eine verbesserte, eine zeitgemäße Vaterrolle einzunehmen. Die Emanzipation nach Frauenart bricht grundsätzlich mit dem Vater. Sie orientiert sich nicht etwa an der Vergangenheit, um es in Zukunft besser zu machen, sie orientiert sich vielmehr an einer utopischen Vorstellung von einer Zukunft, auf die sich jedoch nicht alle gleichermaßen freuen. Es sieht auch nicht danach aus, als würden wir jemals in dieser schönen, neuen Welt der Gleichheit ankommen. Der Weg dahin ist gepflastert mit pauschalen Verurteilungen und Kriegsgeschrei, und die Mittel verraten bekanntlich die Wahrheit über den Zweck.

 

Söhne und Töchter des Feminismus

Ich hatte angekündigt, dass ich zwei Bücher vorstelle. Beide sehen schon von der Aufmachung her wie Brüderchen und Schwesterchen aus. Sie heißen ‚Sons of Feminism‘ und ‚Daughters of Feminism‘ und bieten einen Rückblick auf fünfzig Jahre Emanzipation in zwei Bestandsaufnahmen, bei denen einmal die Söhne und einmal die Töchter zu Wort kommen – also beide Seiten berücksichtigt werden. Die Bilanz ist, wie wir schon ahnten, nicht besonders erfreulich.

 

Die Söhne und Töchter sind in einer Zeit aufgewachsen, in der es selbstverständlich war, feministisches Gedankengut, das längst in alle Lebensbereiche hineingesickert war, als Goldstandard anzusehen. Viele waren damals feministische Aktivisten, wie auch Janice Fiamengo, die ‚Sons of Feminism‘ herausgegeben hat (ich übrigens auch, ich habe mich zwar nicht als Feministin gesehen, aber schon hier und da mitgemacht …). Die Ideale waren ja auch verlockend: Wer sollte nicht gegen Ungerechtigkeit und gegen Gewalt sein?! Wer sollte nicht für Frauen sein?!

 

Der faule Apfel

Doch die großen Versprechen, die nebenbei bemerkt gar nicht die Alleinstellungsmerkmale des Feminismus sind, haben nicht die erhofften Früchte gebracht. Die Früchte sind es aber, woran man den Feminismus erkennen kann. Nach fünfzig Jahren ist der Apfel, in den wir weiterhin beißen sollen, auch nicht mehr ganz frisch. Die beiden Bücher sind, soviel ich weiß, die ersten Arbeiten dieser Art und offenbaren, dass wir in der rückblickenden Bewertung noch am Anfang stehen.

 

Janice Fiamengo sieht sich inzwischen nicht mehr als Feministin und gibt eine frappierend einfache Erklärung, die uns aufhorchen lassen sollte, selbst wenn uns Frauen-Themen langsam nerven und wir immer noch glauben, dass uns die Gender-Perspektive nicht interessieren muss. Es betrifft uns alle, wenn wir nicht in einer Lügenwelt leben wollen, in der wir zunehmend verkümmern.

 

Ein Kartenhaus aus Lügen

Sie hat sich vom Feminismus abgewandt, weil sie die vielen Lügen nicht mehr ertragen konnte, die peu à peu aus falschen Zahlen und falschen Begriffen ein in sich geschlossenes System gebildet haben, das einen totalitären Charakter angenommen hat. Man kann in einem Kartenhaus aus Falschbehauptungen und Falschbeschuldigungen nicht in Frieden wohnen, denn man muss fürchten, dass es jederzeit zusammenkracht. Man muss gleich mehrere Elefanten im Raum übersehen und mehr Augen zudrücken, als man hat. Man muss ständig „mit zwei Gesichtern leben“, wie es Aussteiger gesagt haben, die ein totalitäres System überstanden haben. Sie konnten schließlich, wie sie selbst sagten, nicht mehr in den Spiegel gucken, weil sie ein moralisches Minimum verraten mussten.

 

Das Drama der Vaterlosigkeit

In wiederkehrendes Motiv in den Büchern über die Söhne und Töchter sind die Auswirkungen der Vaterlosigkeit. Das sind keine unbeabsichtigten Nebenwirkungen. Schließlich haben es die Feministen oft und unmissverständlich gesagt, dass sie nicht nur die so genannte toxische Männlichkeit, sondern insbesondere das Patriarchat bekämpfen und am liebsten stürzen wollen – darin steckt das Wort „pater“, deutsch: Vater.

 

Es gehört zu den feministischen Glaubenssätzen, dass Väter die Mütter bisher immer nur ausgebeutet hätten. Stimmt das? Eine der Stimmen aus den Büchern berichtet aus Indien. Auch da war der Kampf gegen die patriarchalischen Strukturen erfolgreich – wenn man die Verheerungen, die dabei angerichtet wurden, als Erfolg ansehen mag. Der Sohn aus Indien stellt verwundert fest, dass sich so eine Ansicht jemals verbreiten konnte und widerspricht heftig und geradezu empört im Namen seines Vaters: Der war nicht so. Ganz und gar nicht. Seine Eltern haben hart gearbeitet, alle beide, sie haben getan, was sie konnten. Das feministische Narrativ ist für ihn lediglich eine gigantische Lüge, die sich nicht mit der gelebten Wirklichkeit deckt und sein Heranwachsen überschattet hat. Er will die pauschale Verurteilung nicht länger auf seinem Vater sitzen lassen.

 

Only in english

Beide Bücher gibt es bisher leider nur in englisch. Ich selber habe zu dem Thema – ‚The tragedy of fatherlessness‘ – einen Vortrag gehalten für die International Conference of Men’s Issues ICMI20, die in diesem Jahr nicht wie geplant in Sydney, sondern leider nur in den unendlichen Weiten des Internets stattgefunden hat. Leider nur in englisch. Leider nur so gut, wie ich kann.

 

Ich beginne mit einem Bild, das ich schon zum Vatertag auf der Achse vorgestellt habe, berichte dann von den Anfängen des querelle des femes und ihrer Methode des Kommunikationsabbruchs. Ich nenne es den Sündenfall von Venedig. Schließlich spreche ich darüber, wie sich Vaterlosigkeit speziell in Deutschland nach dem Krieg ausgewirkt hat. Es ist ziemlich lang geworden. Man kriegt vielleicht Lust, anschließend wieder ein bisschen Musik zu hören.

 

 

 

Matthias Binner: Abhören geht nicht

 

Matthias Binner hat mir überraschend gut gefallen. Das ist zu wenig gesagt: Ich war von seinem kleinen Konzert, bei dem er seine erste CD vorstellte, richtig begeistert. Ich habe wieder einmal gemerkt, dass es nicht allein die Musikalität – oder die Ausstrahlung eines Sängers – ist, die mich berührt, es ist vielmehr der poetische Blick (falls ein Liedermacher so etwas hat), der mich verzaubern kann. So einen Blick haben nicht viele. Man merkt bei Matthias Binner sofort den Einfluss von Christof Stählin. Man merkt aber auch, dass er daraus erfolgreich etwas Eigenes geschaffen hat: Es ist etwas Erstaunliches entstanden: Es gibt von ihm lässig, zarte, aktuelle Heimatlieder aus Berlin, rührend und überhaupt nicht kitschig – kann man sich so etwas überhaupt vorstellen?

 

Ich habe ein Problem mit Liedermachern – generell mit Liedern, die ich irgendwo zu hören kriege: ich kann von schlechten Texten nicht absehen … das heißt in dem Fall (da ich ja nicht gucke, sondern höre) müsste ich sagen: nicht „abhören“, aber nicht in der Art wie Nachrichtendienste Texte abhören, sondern „abhören“ entsprechend wie „davon absehen“, also nicht berücksichtigen, darüber-hinweg-hören.

 

Das kann ich nicht. Ich höre zu. Ich achte auf Texte. Schlechte Texte stören mich. Ich bemerke Dummheiten. Unstimmigkeiten. Plattitüden. Es nützt auch nichts, wenn die Texte englisch sind. Auch da merke ich, wenn sie misslungen sind. Wenn sie nicht originell sind. Wenn es Verlegenheitstexte sind. Leider. Ich kann davon nicht abhören. Wenn es geschriebene Texte wären, könnte ich sie vielleicht kurz überlesen. Aber bei Liedermachern kann ich blöde Texte eben nicht einfach überhören und kann nicht davon abhören.

 

Umso größer ist meine Freude, wenn sich das Zuhören lohnt, wenn die Texte frisch sind, wenn sie Fehler und Peinlichkeiten meiden und zu Herzen gehen, ohne dass man sich dazu dumm stellen muss.

 

Wer die Achse des Guten kennt, wird spätestens ab 1: 30 merken, warum ich das Lied empfehle. Ich hätte noch mehr Tipps auf Lager. Aber zunächst einmal das hier:

 

Christof Stählin

Sie kennen Franz Kafka. Lernen Sie lieber Christof Stählin kennen. Entdecken Sie die leise Kraft und eine Heimat, die man sich nur wünschen kann.

 

Turm

Sein Turm in Hechingen

 

Der „stille Mann“ ist verstorben. Christof Stählin wurde am 15.9. in Hechingen beigesetzt. Martin Betz hat eine anrührende, zugleich frohgemute und lebendige Rede gehalten, in der sich der besondere Geist von Christof wiederfand. Mir war, als läge in dem Blick auf die Welt, wie Christof ihn sowohl in seinem Leben als auch in seiner Kunst vorgeführt und wie Martin ihn weitergeführt hat, ein stärkerer Trost als in den Worten des Pastors.

 

„Der stille Mann“ – so heißt ein Album von ihm und benennt zugleich seine große Stärke: Er war nicht laut. Er hatte keine Lautstärke. Er hatte die leise Kraft. Er war speziell. Und doch ist sein Werk etwas für jeden von uns. Eine besondere Hinterlassenschaft sind die Schüler seiner eigenwilligen Akademie SAGO. Doch genauso gehört ein jeder, der ihn jemals auf, neben oder hinter der Bühne erlebt hat, zu seinen Schülern. Alle konnte von ihm etwas lernen: einen neuen – eigentlich alten, irgendwie vertrauten, aber verloren geglaubten – Blick auf die Welt.

 

Er gehörte zu den Liedermachern der ersten Stunde (Reinhard Mey, Franz Josef Degenhardt, Hannes Wader, Walter Mossmann …) und er gehörte gleichzeitig nicht dazu. Er und Hanns Dieter Hüsch waren stets die wundersamen Außenseiter der Szene, für die ein eigener Ton mehr galt als der rechte Ton zur rechten Zeit. Auf ihren privaten Dringlichkeitslisten standen sicherlich nicht solche Stichworte wie „schneller Erfolg“, „Popularität“ oder „politisches Engagement“ an erster Stelle. Da muss irgendetwas anderes gewesen sein. Ich weiß es auch nicht. Ich rate mal: Güte, Freundlichkeit, Zugewandtheit, Humor.

 

Christof Stählin schreibt über den Humor, den wir sehr wohl von der Satire unterscheiden sollten, in seinem Band mit dem ausführlichen Titel ‚Essays über Geschmack, Humor, Adel, Küsse und andere Gegenstände zwischen Poesie, Geschichte und Physik’:

 

„Nichts ist aber auch so schwer zu entdecken, wie das, was nicht so heißt, sondern so ist, nie berechnet und immer unerwartet. Ein zerstreuter Busfahrer in Bonn bog einmal eine Querstraße zu früh ab, und als er dann routinemäßig anhalten wollte, war da auf einmal gar keine Haltestelle. Der vollbesetzte Bus samt Chauffeur brach in Lachen aus. Eine Situation wie im Theater, wenn etwas eintritt, wovon das Publikum sicher sein kann, dass es nicht vorbereitet war. Wenn das von der Bühne her gut pariert wird, stellt sich plötzlich eine Art federleichter Zusammengehörigkeit aller heraus, die man sich als Antwort auf die Frage, was eigentlich Heimat sei, nur wünschen kann.“

 

Das gilt für uns alle. Diese stille Sehnsucht nach einem Heimatland des verzeihenden Humors wird uns erhalten bleiben. Sehen wir mal: Was geschah damals in Bonn, in dieser kleinen Weltstadt, in der früher ein erfolgreicher Politiker das Bad in der Menge suchte? Unser Busfahrer war kein Politiker, er war nicht erfolgreich. Er patzte. Doch sein Fehler wurde ihm nicht um die Ohren gehauen, er wurde nicht verspottet, gerüffelt oder angeprangert. Er befand sich eben nicht in einer Gesellschaft, die erst durch den gierigen Blick auf die Fehlerhaftigkeit der Ausgestoßenen erzeugt wird, er war vielmehr Teil einer grundsätzlich wohlwollenden, gleichwohl nur zufällig zusammengehörenden Gemeinschaft, die ihm kurzfristig ein Bad in einem unerwarteten Zuhause ermöglichte.

 

Heimat ist möglich. Humor ist möglich. Auch in Deutschland. Wir sind alle unterwegs in einem Bus, der möglicherweise falsch abgebogen ist. Christof Stählin erbat sich immer wieder herzlichen Applaus für die kleinen Fehler. In fast jedem Buch schleichen sich welche ein. Deshalb liegen manchmal kleine Zettel bei – so genannte Errata mit einem Verzeichnis der Druckfehler. Bei Christof Stählin heißt es allerdings nicht „Druckfehlerberichtigung“, sondern „Druckfehlerberechtigung“.

 

Ich empfehle, sich zur Erinnerung eine der Postkarten von ihm anzuschaffen. Er hat als eines seiner letzten Veröffentlichungen eine Partie Postkarten mit kleinen Sentenzen zusammengestellt. Die Inschrift der Karte, die mir am liebsten ist, lautet:

 

„Männer und Frauen sind gleich.*

*Nicht zutreffendes bitte streicheln.“

 

 

Franz Kafka hat uns die Möglichkeit hinterlassen, ein Gefühl für die Welt mit einem Vergleich zu versehen. Auch wenn wir seine Bücher nicht gelesen haben, wir kennen das Kafkaeske. Wir können also, wenn wir uns beispielsweise in den Absurditäten der Bürokratie verlaufen haben, aufstöhnen und unserer Begleitung, die uns sofort verstehen wird, zuflüstern: Das ist ja wie bei Kafka.

 

Es gibt aber auch unverhoffte Glücksmomente in den „Schluchten des Alltags“, es gibt „Wunderpunkte“; es gibt äußerst erstaunliche Zusammenhänge, die plötzlich aufscheinen, als würden sie ein Geheimwissen offenbaren und blitzartig einen Glanz auf die Welt werfen. Da können wir dann mit stillvergnügtem Lächeln seufzen: Das ist ja wie bei Stählin.

 

Liedermacher machen bekanntlich alles selber. Das taten sie schon lange vor IKEA. Sie sind Selbermacher. Das können wir auch. Wir können, wenn unsere Sinne frisch geschliffen sind, uns einen Stählin-Moment jederzeit selber machen. Durch eigene Beobachtung. Durch Selbersehen, durch Selberhören – bitte sehr: „Im Klang einer Harfe schwingt das Begriffene. Ich will nicht das Scharfe, ich will das Geschliffene“.

 

Das werden die Momente sein, die uns an ihn erinnern. Wir werden ihn vermissen. Wir können uns jedoch trösten, dass es diese Momente gleichwohl – auch ohne ihn – für uns geben kann, er hat lediglich darauf aufmerksam gemacht und immer wieder daran erinnert, „wie das Leben schmeckt“, er hat behutsam in die Richtung gewiesen und uns augenzwinkernd gefragt:

 

„Entschuldigen Sie bitte, wissen Sie vielleicht, wo es hier zum Labyrinth geht?“

 

stählin

Foto: Wolgang Schmidt

 

 

Hier findet sich etwas Wegzehrung.

Hüsch bewegt uns immer noch

 

 

Wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute … Hanns Dieter Hüsch lebt nicht mehr. Er würde sonst am 6. Mai seinen neunzigsten Geburtstag feiern können. Nun müssen wir ohne ihn feiern und bei der Gelegenheit können wir uns darüber freuen, dass seine Texte noch leben und darin seine Kunst und seine Eigenarten erhalten bleiben.

 

Eine kleine, öffentliche Geburtstagsfeier findet im Logensaal der Hamburger Kammerspiele statt. Da wird ein neues „Bühnenstück für Hanns Dieter Hüsch“ uraufgeführt, „Und sie bewegt dich noch!“, heißt es. Darin wird aus seinem Leben erzählt und es werden Lieder von ihm dargeboten. Jürgen Kessler, der Hüsch seit 1969 begleitet und eine Werkbiografie erstellt hat, hat die Revue zusammengestellt. In einem Nachwort, das sich direkt an Hüsch im Himmel wendet, versucht er – wenn schon nicht in den Worten von Hüsch selber, so doch in einem Ton, der zu ihm passt ­– die aktuelle Situation auf Erden zu erklären. Er hat keine guten Nachrichten, er spricht:

 

„Unsere Welt des poetischen, literarischen Kabaretts ist vergangen, Hanns Dieter, das Lachen und Weinen über das Leben … Man braucht Humor für das, was andere heute für Humor halten. Viele glauben ja, es sei ein Produkt, der Humor, so wie die Komik. Wir hielten ihn für eine Charaktereigenschaft.“

 

Man könnte auch sagen: für eine Haltung. Und die ist „Typisch Hüsch“ – so heißt eine seiner frühen LPs, die ironischerweise seine eher untypischen, nämlich seine politisch besonders deutlichen Stücke enthält. Jürgen Kessler fragt sich nun, welche typischen Worte Hüsch heute finden würde, wenn er wüsste, was hier los ist. Die aktuelle Stimmungslage fasst er so zusammen:

 

„Die alles gleichmachende Gerechtigkeitsgesellschaft ist eine glücklose, eine unsinnliche, unerotische, ganz und gar unfreundliche Gesellschaft.“

 

Das würde Hanns Dieter beunruhigen. So kenne ich ihn. Ich kann mich noch gut erinnern. Nach einem seiner Auftritte in Tübingen saßen wir noch spät im kleinen Kreis zusammen und führten – wie es selten, aber glücklicherweise manchmal eben doch vorkommt ­– ein ernsthaftes Gespräch, in dem es abseits von Interviewfragen oder vorbereiteten Stellungnahmen darum ging, was er dem Publikum eigentlich mitteilen will, was kurz zusammengefasst seine Botschaft ist. Seine „message“, wie man heute sagen würde.

 

Er wusste es. Es war ihm ernst. Wir waren überrascht. Ich habe noch deutlich den Tonfall vor Ohren, in dem er offenbarte, worum es ihm ging: um Freundlichkeit. Das war im Grunde das, was er mit seinen Programmen rüberbringen wollte: Freundlichkeit.

 

Hm? Nicht alle von uns waren damit zufrieden. Sollte das etwa ein neues politisches Programm sein – oder wie, oder was? Einer hatte sogleich ein Zitat von Brecht parat, das ich jetzt nicht auswendig aufsagen kann, das sinngemäß besagt, dass gerade diejenigen, die für eine freundliche Welt sorgen wollten, selber nicht freundlich sein konnten. Hüsch wollte das. Brecht hin, Brecht her.

 

Damit konnte eine alte Diskussion in eine neue Runde gehen. Einerseits gibt es bekanntlich die Auffassung, dass der Zweck die Mittel heiligt, andererseits gilt der Satz von Hegel, der besagt, dass die Mittel die Wahrheit über den Zweck verraten. So sieht es übrigens auch Christof Stählin, der – das kann ich jetzt auch nicht wörtlich zitieren – schon im Weg das Ziel erkennen möchte.

 

 

So einer war Hüsch: ein freundlicher Reisender auf der Suche nach einem freundlichen Land. Ein Leisetreter mit Zwischentönen, der zwischen den Stühlen saß; manchmal aber auch jemand war, dem man gerade den Stuhl unter dem Hintern weggezogen hatte. Leise Stimmen lassen sich leicht niederbrüllen. Er war besonders verletzlich. Er litt noch Jahre später darunter, dass man ihn – wie auch Reinhard Mey – auf dem Chanson-Festival auf der Burg Waldeck in Grund und Boden kritisiert und geradezu „geschlachtet“ hatte – „gegrillt“, wie man heute sagen würde –, weil er nicht links genug war. Noch in den achtziger Jahren war ein Auftritt von Hüsch vor einem studentischen Publikum ein gewisses Risiko. Es war schlecht abzuschätzen, wie das ankommen würde.

 

Gleichwohl hatte ich den Eindruck, dass nun eine neue Zeit angebrochen war mit neuen, womöglich sanfteren Tönen. Es gab neuerdings Aufkleber „Atomkraft – Nein Danke“. Na also. Ein saloppes „Nein Danke“ klingt doch gleich viel höflicher als „Weg mit!“, „Kampf dem …“ oder „Sieg im Volkskrieg“. Ich hatte eine kleine Sammlung solcher Aufkleber mit fröhlicher Kindersonne, die es damals in verschiedenen Sprachen gab, sogar in Gälisch oder auf Japanisch. In der ‚Alten Kunst’ in Tübingen gab es eine Pizza mit Spiegelei, die „Pizza Atomica“ hieß. Da hatte ein Witzbold mit Filzstift „Nein Danke“ an den Rand geschrieben. In Heidelberg in der ‚Santa Lucia’ gab es sogar eine Pizza mit zwei Spiegeleiern, die „Pizza Gina Lollobrigida“. Das machte alles einen guten Eindruck.

 

Doch die Zeiten sind vorbei (vielleicht hat es sie sowieso nie gegeben – es gab sie nur in meiner Verklärung). Der Ton ist wieder rauer geworden, der Wind schärfer (vielleicht war er immer so gewesen – es kam mir nur nicht immer so vor). Ich frage mich heute, in welcher Tonne für den Sondermüll das „Danke“ geblieben ist, das mir einst so generös und freundlich vorkam. Das „Danke“ ist weg. Heute wird einfach verboten, was gestern noch erlaubt war. Heute wird per Aufschrei Anklage erhoben und die Anklage enthält bereits die Bestrafung. Heute entscheidet ein strenger Wächterrat, ob etwas akzeptabel ist oder nicht. Es wird nicht mehr diskutiert. Keine Widerrede. Keine Alternative. Basta.

 

Wer die Energiewende kritisiert, umfährt Tübingen weiträumig. Zwei Spiegeleier auf einer Pizza gelten als sexistisch, in Heidelberg gibt es heute einen „Studentinnenteller“. Rauchen ist sowieso nicht mehr drin, es gilt zero tolerance für alle, die die politisch korrekte Parteilinie auch nur mit den Fußspitzen berühren. Es wird nicht etwa mit Kanonen auf Spatzen geschossen, sondern mit den modernen Waffen des shitstorms, der digitalen Variante der Steinigung in kleiner Dosis, die jemanden sozial töten und persönlich verletzen soll.

 

Offenbar wollte Eckard Henscheid genau das, als er ihn einst in einem ausufernden Verriss als den „Allerunausstehlichsten“ bezeichnete und im selben Text einräumte, dass er die Stücke von Hüsch gar nicht kannte und dass er sie auch nicht für würdig hielt, sich damit näher zu beschäftigen. Was waren das denn für Töne? Ein kreischender Mega-Superlativ, eine lautstark ausposaunte Beleidigung ad personam, ein vorsätzliches Wehetun-Wollen und der auftrumpfende Verzicht auf das, was man in juristischer Sprache Substantiierung nennt – das klingt nach Alice Schwarzer. Dass es in diesem Fall Töne waren von jemandem, der beanspruchte, qualifiziert zu sein, ein literarisches Urteil abzugeben, machte die Sache um so bitterer.

 

Hanns Dieter Hüsch hat sehr darunter gelitten und sich gedacht: Nun geht es wieder los. Die Hemmungslosen sind wieder da. Es gibt keine Schutzwälle mehr aus Redlichkeit und Anstand. Mit ihm konnte man es ja machen. Er, der selber freundlich sein, der seinerseits nicht vorschnell austeilen wollte und stets nach einem angemessenen Wort suchte, kriegte es voll ab. Voll in die Fresse. Er war wie der nette Lehrer, an dem die frechen Schüler auslassen, was sie sich sonst nicht trauen.

 

Sein Eintrag auf Wikipedia liest sich wie eine Erfolgsstory. George Orwell wusste aber schon, dass eine solche Geschichtsschreibung nur von außen gesehen als Abfolge von Triumphen wirkt, von innen gesehen ist es eine Reihe von Kränkungen, Demütigungen und Enttäuschungen. Das alles mit Humor auszuhalten und dabei freundlich zu bleiben, ist bewundernswert.

 

Hier noch ein Auszug aus dem Bühnenstück:

„Wird Freiheit mit Zügellosigkeit verwechselt, entsteht Rücksichtslosigkeit.

Am Schluss Gleichmacherei.

Ihr seid aber nicht alle gleich.

Noch nie wart ihr alle gleich.

Ihr lasst es euch aber einreden.

So werdet ihr immer respektloser, ungenießbarer gegeneinander.

Vergeudet in Kleinkriegen eure Zeit, als hättet ihr ein zweites Leben.

Weil ihr tatsächlich alles verwechselt.

Behauptungen mit Beweisen.

Gerechtigkeit mit Maß.

Religion mit Moral.

Desinteresse mit Toleranz.

Satire mit Häme.

Reform mit Veränderung.

Nachrichten mit Wirklichkeit.

Kulturunterschiede haltet ihr für Softwarefragen und ihre Analyse ersetzt ihr mit Anpassung.

Ihr habt die Maßstäbe verloren.

Der Gordische Knoten ist ein Keks gegen eure selbstverschuldete Wirrsal.

 

Man geht immer fehl, sucht man den Ursprung menschlicher Handlungen außerhalb der Leidenschaft des menschlichen Herzens …

 

Der Separatismus gendert sich in die Köpfe, sitzt in Regierungen.

Männer sind keine Männer mehr. Frauen keine Frauen, sondern ‚Menschen mit Menstruationshintergrund’, Quote ist Trumpf.

Auf gar keinen Fall sollen Mann und Frau sich noch als zwei Teile eines Ganzen begreifen. Damit die Geschlechter noch mehr aneinander verzweifeln.

Bis alle in destruktiver Selbstbezogenheit stecken.

Am Ende: Mann ohne Eier. Frau ohne Welt.

 

Auf die Erschöpfung des Mannes wird aber nur die Erschöpfung der Frau folgen, das sage ich euch.

Auf die Verstörung der Kinder folgt die Zerstörung der menschlichen Schöpfung.“

 

Nun ja. Bis es soweit ist, haben wir noch Gelegenheit, im Andenken an ihn ein bisschen von der Götterspeise zu löffeln (die Hüsch-Freunde wissen, wie ich das meine) und dabei auf ihn anzustoßen.