Joseph Haydn feiert seinen dreihundertsten Geburtstag. Moment. Noch nicht. Erst im Jahre 2032. Bis dahin sollen in dem weitherzig angelegten Projekt „Haydn 2032“ alle seine Sinfonien auf historischen Instrumenten neu eingespielt werden. Haydn soll aufleben. Die Edition soll nicht etwa nach Zahlen (1 bis 107 – so viele Sinfonien sind es), sondern nach Themenschwerpunkten geordnet und in einen erweiterten Kontext gestellt werden, in dem einerseits Musikstücke von Haydns Zeitgenossen und andererseits Arbeiten aus Fotografie und Literatur von lebenden Künstlern hinzugefügt werden. Sammler können jetzt schon anfangen und sich für eine CD mit umfangreichem booklet oder gleich für die Luxusausgabe entscheiden. Zwei Bände gibt es schon. Hier ist der (gekürzte) Text zum ersten Band:
„Mein liebes Kind Kind!
Gerade komme ich mit einer Überdosis Klassik im Ohr zurück aus Wien. Was soll ich dir sagen? Die Türken haben Wien erobert und letztlich doch gewonnen. Zumindest haben sie meine Aufmerksamkeit gewonnen. Als ich – ständig mit Hintergrundmusik berieselt – im Haus der Musik endlich bis zur Kasse am Souvenirshop vorgedrungen war, habe ich plötzlich aufgehorcht: Was war das?
Es war türkische Popmusik. Da habe ich – wenn auch nur kurz – die Ohren gespitzt, weil es ungewöhnliche Klänge waren; sie waren mir fremd, aber sie gefielen mir irgendwie. Ich musste kurz stehen bleiben und lauschen: Es war Musik, die ich zum ersten Mal hörte.
So – oder zumindest so ähnlich – stelle ich mir den Effekt vor, den Haydns Musik damals hatte. Das will ich Dir gerne erklären und Deine Frage beantworten, was Haydn für ein Typ war – und was an seinen Kompositionen dran war, das die Leute mochten.
Haydn war etwa so alt wie Du bist, als er Sinfonien schrieb, seine erste stammt vermutlich aus dem Jahre 1757. Haydn wäre demnach 25 Jahre alt gewesen, er war kein Kinderstar. Die Kunstform der Sinfonie war auch noch jung, du darfst Dir darunter nicht so etwas vorstellen wie eine Sinfonie von Beethoven, bei der gleich eine ganze Weltanschauung zum Ausdruck kommen soll.
Der Fürst Paul Anton Esterházy war vermutlich einer der reichsten Männer seiner Zeit. Er hörte sich im Jahre 1760 ein Musikprogramm an, zu dem der weniger reiche böhmische Graf von Morzin eingeladen hatte. Die Musik gefiel dem reichen Fürsten dermaßen gut, dass er sofort nachfragte, ob er den Komponisten abwerben könnte. Er wollte also Haydn nicht etwa engagieren, weil der schon berühmt gewesen wäre, sondern weil er diese Art von Musik schon beim ersten Hören mochte.
So kam Haydn nach Eisenstadt. Da war er als Nachfolger des alten Kapellmeisters vorgesehen, er hockte auf der Reservebank und war dem Fürsten bisher noch gar nicht begegnet. Der hatte Geburtstag, seine Hoheit nahm auf dem Hochsitz inmitten seines Hofstaates Platz, um sich eine festliche Sinfonie anzuhören, die speziell zu seinen Ehren aufgeführt wurde.
Kaum hörte er den ersten Satz, unterbrach er mitten im Allegro, als würde er einen CD-player auf Stopp stellen, um das noch einmal von vorne zu hören, weil es ihm so gut gefiel. Er wollte wissen, von wem die Musik sei. Wer hatte das komponiert? Als man antwortete, „Haydn“, kam ihm der Name irgendwie bekannt vor – richtig: diesen Haydn hatte er bereits engagiert, er war auch anwesend, irgendwo im Publikum versteckt, der Fürst ließ ihn vortreten, um ihn endlich persönlich kennenzulernen.
„Was dieser Mohr?“, rief er. „Ich will dich nicht in diesem Aufzug hier sehen. Du bist zu klein, und machst eine schlechte Figur. Nein, nein, du musst einen neuen Anzug haben, eine Perücke mit Locken, einen roten Kragen und ebensolche Schuhe, aber mit hohen Absätzen, damit deine Statur deinem Können angemessen ist.“
So war also der erste Eindruck, den seine Musik machte. Und so war der erste Eindruck, den Haydn als Person machte. Für Musiker gab es damals einen festen Dresscode. Weiße Strümpfe mit roten Schleifen sollten sie haben. Wir kennen inzwischen die Rechnungen: Fürst Esterházy hatte in dem Jahr allein für Bekleidung 4.500 Gulden ausgegeben, er ließ sich von erlesenen französischen Schneidern beliefern und verlangte nur beste Ware. Zum Vergleich: Das Jahresgehalt seines Kapellmeisters betrug ganze 400 Gulden.
Haydns Musik gefiel auf Anhieb – unabhängig von seinem Auftreten. So war es schon gewesen, als er in Wien als junger Straßenmusiker sein Glück versucht hatte und dabei stets auf der Flucht vor den Rumorwächtern war. Mit einem musikalischen Blumenstrauß wollte er die schöne Franziska beeindrucken, die Frau des berühmten Schauspielers Joseph Kurz. Der – nicht etwa sie – stürzte dann auch sofort aus dem Haus und zerrte den verblüfften Haydn in seine Wohnung.
Haydn schien ihm der Richtige zu sein, er wollte ihn testen: Er sollte die musikalische Untermalung zu einer Szene improvisieren, an der er gerade arbeitete. Haydn bestand den Test. Er verließ die Wohnung von Joseph Kurz mit seinem ersten Auftrag für die Kompositionen für das Singspiel Der krumme Teufel.
Nun war er in Eisenstadt. In der verschlafenen Provinz – sollte man meinen. Doch die Provinz war in Bewegung, sie versammelte sich regelmäßig in Wien, wenn da Saison war. Da reisten die Herrschaften aus nah und fern an, um die Künstler, die bei ihnen angestellt waren, vorzuführen. In der Wintersaison des Jahres 1761 waren es zwei Namen, die, wie es von Zeitgenossen genannt wurde, „Sensation machten“: Haydn und Gluck. Fürst Esterházy führte der geneigten Wiener Gesellschaft stolz seine neue Erwerbung – den neuen Vizekapellmeister Haydn vor –, der zum Shootingstar wurde. Christoph Willibald Gluck, der am Hof diente, war bereits ein Fixstern.
Kurz vorher – 1760 also – hatte Haydn geheiratet. Die Falsche. Er hatte sich in die jüngere der beiden Schwestern verliebt und nahm die ältere zur Frau. Beide waren Töchter des Perückenmachers Keller, bei dem Haydn in der schlechten Zeit untergekommen war. Die ältere hatte eine kleine Mitgift, die jüngere war dem Kloster versprochen.
Doch eine Hochzeit war die einzige Möglichkeit, eine Frau „zu Bette“ zu kriegen, wie es in den Worten des Singspiels vom krummen Teufel hieß, das wegen seines anzüglichen Textes sofort verboten wurde. Die Sitten unter Maria Theresia waren außergewöhnlich streng. Die Monarchin hatte die gefürchtete Keuschheits-Kommission eingeführt, über die nicht nur Casanova spottete. Das Intimleben der Bürger wurde aufs Peinlichste ausspioniert, ertappte Prostituierte wurden ausgepeitscht; wer ein uneheliches Kind in die Welt setzte, musste die Heirat unverzüglich nachholen.
Was einem Manne für ein Schicksal blühte, wenn er keine Frau abkriegte und Junggeselle blieb, wusste Haydn von dem Singspiel Der krumme Teufel, zu dem er schließlich selber die Musik geschrieben hatte. Da gab es die Figur des alten Lüstlings, der mit Hohn und Spott übergossen wurde. Was wiederum geschah, wenn man mit seiner Leidenschaft auf Abwege geriet, zeigte das aktuelle Ballet Don Juan – sowohl in der Musik als auch in der dramatischen Inszenierung: Wer sein Begehren nicht im Griff hatte, fuhr zur Hölle. Das wurde eindrucksvoll mit Fackeln dargestellt. Leidenschaft war im wahrsten Sinne des Wortes ein Spiel mit dem Feuer.
Bei der Gelegenheit brannte die Bühne ab. Nein, stimmt nicht. Kleiner Scherz. Es gab allerdings gelegentlich Brände in einem der Theater, wenn auch nicht gerade bei der Aufführung von Don Juan. Auch Haydns Wohnhaus in Eisenstadt, in dem er neuerdings mit seiner Frau lebte, brannte nieder. Damit brannte womöglich auch die Hoffnung ab, dass aus der Ehe noch einmal Kinder hervorgehen und dass es wenigstens eine halbwegs glückliche Ehe werden würde. So wie Goethe erleben musste, dass seine Frau mit seinen Gedichtblättern Brote einwickelte, musste Haydn erleben, wie seine Frau die Notenblätter eindrehte, um sie als Lockenwickler zu benutzen.
Über sein Eheleben mochte Haydn nicht gerne sprechen. Diesen Eindruck hatte jedenfalls sein Biograph Albert Christoph Dies. Vielleicht, so mutmaßte er, weil Haydn es „unwürdig“ fand, über das „häusliche Leiden“ zu lamentieren, oder weil es ihm einfach normal und „alltäglich“ vorkam – als wollte er sagen: Es geht doch allen so.
Ist Dir die Anrede „mein liebes Kind Kind!“ aufgefallen? Die barocke Mode hatte es gerne symmetrisch. Damals schrieb man tatsächlich einen hochgestellten Herrn mit „Herr Herr!“ an. Die Verdoppelung war nicht etwa Kindersprache, sondern Ehrbezeichnung. Die Umgangsformen waren kompliziert wie eine Fremdsprache, die man nie fehlerfrei beherrschen würde. Dennoch waren sie lebenswichtig. Die Menschen klammerten sich daran, als würden sie andernfalls ins Bodenlose stürzen. Es war nicht bloß eine Marotte des Adels.
Haydns Mutter kam aus einfachen Verhältnissen, sie gehörte zum Küchenpersonal, sie kannte sich gut mit den Umgangsformen der besseren Leute aus. Schon der kleine Haydn lernte von ihr Reinlichkeit und Ordnung. Vor allem Ordnung. Irgendeine Ordnung musste die Welt haben. Wenn es allenthalben so viel Chaos und Schrecken gab – Kriege, Krankheiten –, dann musste man sich umso mehr an eine Ordnung klammern.
Deshalb ist Deine Frage, was Haydn für ein Typ war, zugleich eine Frage nach Form und Inhalt, nach Wesen und Erscheinung. Äußerlichkeiten wurden geradezu als Wissenschaft betrachtet. Der hohe Anspruch an die Formalitäten war ein ständig zum Scheitern verurteilte Versuch, das „krumme Holz“, aus dem der Mensch, wie Kant sagte, geschnitzt ist, auf eine schnurgerade Linie zu ziehen.
Und was hatte Haydn für Vorbilder und Einflüsse? Wieso hatte er überhaupt welche, wenn er in Eisenstadt gebunden war? Wieso konnte er Teil des Weltgeistes, Teil des Zeitgeistes sein? Er konnte es, weil die Form dem Inhalt vorauseilte, als würden beide getrennt reisen. Die Methoden der Aufklärung verbreiteten sich schneller als deren Themen.
Die so genannte Gelehrtenrepublik, die wir uns als eine Art Nicht-Regierungs-Organisation der aufgeklärten Weltbürger vorstellen können, war gut vernetzt, in einem Internet der Postkutschen. Je besser die Postwege ausgebaut wurden, umso intensiver wurde auch der wissenschaftliche Austausch. Damit entwickelt sich der Brief als „geistiges Format“, entsprechend waren auch die großen literarischen Erfolge dieser Zeit Briefromane – wie von Rousseau und Goethe. Übrigens sind auch die bekannten Haydn-Biographien von Stendal und Carpani in Briefform gefasst.
Haydn hatte einen direkten Zugang zu den neuen Entwicklungen. Denn der Geist der Aufklärung verbreitete sich zunächst durch die Weltsprache der Mathematik, in einer Sprache also, die wie die Sprache der Musik nicht den Umweg über eine Übersetzung gehen musste.
Die Vordenker der Aufklärung hatten die Bahnen der Planeten errechnet und daraus erstaunliche Gesetzmäßigkeiten abgeleitet. Keppler, Galilei, Newton – sie alle waren sich einig, dass Gott die Welt nach mathematischen Formeln erschaffen hatte, und Gott hatte diese Gesetze in die Natur, in das „zweite Buch Gottes“, hineingeschrieben. Diese Gesetze galt es nun zu entdecken und nachzuvollziehen. Die Formeln die dabei gefunden wurden, brachten den rasanten technischen Fortschritt und sie ermöglichten die Entdeckung und Vermessung der Welt – und die wohltemperierte Stimmung, die zu einer Entdeckungsreise in die verschiedenen Tonarten einlud.
Doch eine bloße Anwendung der Regeln würde nur, wie man damals sagte, „gelehrtes Geräusch“ erzeugen. Damit wäre eine Rechenaufgabe gelöst, aber keine neue Erkenntnis gewonnen. Das wäre noch lange nicht Musik. So sehr die Frühaufklärung einer Zahlenverliebtheit erlegen war – was sich an dem Ergeiz zeigte, Spielautomaten; ja, vielleicht sogar einen künstlichen Menschen oder ein perpetuum mobile zu erschaffen – so wenig konnte man verbergen, dass mit den Zahlen keine Gefühle verbunden waren. Kein Leben. Als wären Zahlen immer nur nackt. Leere Gläser. Unbeschriebene Blätter. Es fehlte noch etwas Wichtiges: das Unmittelbare, das Lebendige.
Weißt Du noch, wie wir früher manchmal vor dem Schlafengehen die großen Fragen des Lebens gewälzt haben: Warum lachen Tiere nicht? Wer denkt sich eigentlich die Witze aus? Auch Wilhelm von Humboldt hatte Fragen gestellt, die wie Kinderfragen wirken: Warum singt der Mensch? Er hatte nicht gefragt: Warum rechnet der Mensch?
Haydns Mutter soll sehr schön gesungen haben, ihr Mann hatte sie dabei an der Harfe begleitet und schon der kleine Seppl soll dazu als little drummer boy den Rhythmus geschlagen und Luftgitarre – Luftvioline natürlich – gespielt haben. Es hat immer mich gewundert, wenn ich las, dass im Elternhaus von Haydn an „jedem“ Tag Musik gemacht wurde. An jedem! Vielleicht stimmt das. Musik muss ein Grundnahrungsmittel gewesen sein, sie gehörte dazu: bei der Arbeit, in der Gaststätte, in der Kirche. Nicht so wie heute; da ist Musik zwar auch allgegenwärtig, aber als Hintergrundmusik wie schlechtes Wetter, wie eine akustische Umweltverschmutzung.
Selbstgebastelte Weihnachtsgeschenke sind wertvoller als gekaufte, so wie mir auch deine selbst gemalten Bilder, die du mir geschenkt hast, besonders lieb sind. Musik wurde selbst gemacht. Wenn jemand in den verschiedenen Büchern, die ich über die Zeit lese, als „leidenschaftlich“ beschrieben wird, dann ist es stets der „leidenschaftliche“ Musikliebhaber: etwa dieser Graf von Morzin, oder Karl Joseph Weber von Fürnberg, der sich immer wieder Noten bei Haydn bestellt hatte, um damit zusammen mit seinem Beichtvater und mit Haydn selber zu musizieren. Haydn sollte auch in Eisenstadt nicht nur Musik für besondere Anlässe liefern, sondern für das tägliche Selbermachen.
Mit der Aufklärung war die Vorstellung von der Machbarkeit verbunden, als hätte es damals schon die Parole gegeben: „Yes, we can!“. Mehr noch: Rousseau hatte die Kindheit entdeckt und mit dem Kind das Spiel, das Schiller als die „Antriebskraft“ des Menschen sieht. Im Spiel ist der Mensch frei. Heraklit erkannte im Spiel der Kinder sogar ein Spiegelbild des Weltenschöpfers Zeus.
Denn es fehlte noch etwas. Die Erklärungsmodelle der Aufklärung hatten bei der Frage nach dem Geheimnis der Schöpfungs- oder der Antriebskraft einen blinden Fleck: Man konnte diese Kraft zwar messen und berechnen, man konnte dafür sogar eine Formel finden, man konnte aber nicht erklären, woher diese Kraft überhaupt kam.
Vielleicht wird deshalb so gerne die Geschichte erzählt, dass Haydn als junger Chorknabe am Grab von Antonio Vivaldi, der in Wien gestorben war, gesungen hat. Womöglich stimmt es gar nicht. Doch es wird gerne erzählt, weil es nahelegt, dass das musikalische Genie von Vivaldi wie ein Flaschengeist aus dem Sarg heraus entwichen ist und sich unter den zufällig umstehenden Knaben eine neue Wohnstatt ausgesucht hat. Natürlich ist das Unsinn, aber man hätte doch gerne eine Erklärung für die Entstehung und Übertragung dieser unerklärlichen Schöpfungskraft.
Alles können die Herren Wissenschaftler eben doch nicht erklären. Und so musste auch bei den Aufnahmen für das Haydn-Projekt noch etwas hinzugefügt werden, das ursprünglich sowieso dabei war, das aber nicht direkt in den Notenblättern steht: die Spielfreude! Diese wundersame Kraft aus dem Paradies der Kindheit, die an das Spiel der Götter erinnert. Denn Spiel ist Leidenschaft – und das Glück liegt in der Tat. Im Selbermachen.
Sonst fehlt die süße Mühsal, mit der man sich etwas aneignet – und nun da ich Dir schreibe, merke ich, wie sehr ich es vermisse, dass ich nicht mehr selber Musik mache. Man muss mit den Formen ringen, muss sich an Widerständen reiben, muss sie überwinden oder sich irgendwie damit arrangieren und mit ihnen leben. Erst so schafft man sich das richtige Leiden für eine richtige Leidenschaft. Erst die Reibung, die man beherrscht oder in Kauf nimmt, macht etwas wertvoll. Deshalb sagt man ja auch: Liebe ist nicht etwa Reibungsverlust, sondern Reibungsgewinn.
Also, in diesem Sinne: halt die Ohren steif und spiel weiter, so lange es geht, mein liebes Kind Kind!“