Alle Jahre wieder: Zu Weihnachten strahlte der Baum im Lichterglanz und das Fernsehen strahlte zur besten Sendezeit ‚Mamma Mia’ aus, einen Erfolgsfilm mit Starbesetzung für die ganze Familie: die Verfilmung des gleichnamigen Musicals mit den Hits von Abba.
Da ging mir ein Licht auf und plötzlich wurde mir klar, warum ich diese Musik nie mochte. Gut: ‚Chiquitita’ habe ich gerne gehört – es war das gute Gewissen der Band, alle Erlöse aus dem Song gehen an UNICEF. Doch mich hatte von Anfang an die Ahnung beschlichen, dass der Abba-Pop eine neue Art von Schamlosigkeit mit sich bringt.
Abba gelten als Nachfolger der Beatles. Ab 1975 waren sie weltweit die erfolgreichste Gruppe. Den Platz eins konnten die Fab Four immerhin noch fünf Jahre nach ihrer Trennung halten. Es wirkte wie ein natürlicher Fortschritt, nun waren neue Leute dran, die jünger und zugleich reifer waren. Die Beatles waren noch eine Bande von Jungs gewesen, die als Teenager angefangen hatten – Abba war ein Quartett mit Saubermann-Image, das aus zwei adretten Pärchen bestand. Mit den Beatles hörten wir die Stimme der Männer, mit Abba die Stimme der Frauen (auch wenn ein Mann ihnen die Texte in die Münder legte).
Eine Frauenstimme hatten die Beatles grundsätzlich abgelehnt, auch als musikalische Klangfarbe, das machten sie lieber selber, sie hatten ihre Quietschstimmen schon früh zu ihrem besonderen Kennzeichen gemacht. Das Fehlen einer Frau war ein Teil ihres Charmes: Vier stürmische Jungs waren auf der Suche nach der großen Liebe, looking for love. Als sie die gefunden hatten, war ihr Projekt am Ende. An der Unverträglichkeit von Yoko Ono und Linda McCartney zerbrach auch die Freundschaft von John und Paul, ein Wiederaufleben schien erst wieder möglich, als John kurzfristig von Yoko getrennt war, doch – wie wir inzwischen wissen -, kam es nicht mehr dazu.
Dabei war gerade diese Jugendfreundschaft der große Glücksfall gewesen: Schon 1957 hatten sich John und Paul kennengelernt, Paul war damals erst 15. Entsprechend war es bei Benni und Björn, die sich 1966 zum ersten Mal trafen, als Benny schon 20 war. Andere Zeiten – dasselbe Modell: Auch diese beiden Freunde waren ein Glücksfall für die Musikgeschichte, thank you for the music. Im Unterschied zu den Beatles betraten sie die Bühne der Popwelt nicht mit weiteren Kumpeln, sondern zusammen mit ihren festen Freundinnen, die sie wenig später heirateten.
Auch Abba löste sich nach etwa 10 Jahren auf. Da waren auch die Ehen geschieden. Ein Angebot, für den einmaligen Betrag von einer Milliarde Dollar noch mal gemeinsam aufzutreten, lehnten sie bisher ab. Anni-Frid ist nicht mal zu einem gemeinsamen Pressefoto – etwa anlässlich der Uraufführung des Musicals – bereit. Die Männer sind Freunde geblieben und machen weiter Musik.
Die Botschaft der Beatles war LOVE – so albern das gelegentlich wirkte mit den Irrungen und Wirrungen, die ein Teenager für Liebe hält. Sie entwickelten sich weiter zu einem allgemein verstanden Begriff von Liebe mit all you need is love als Weltformel. „Liebe ist möglich“ hätte Franz Alt womöglich gesagt, wenn man ihn um einen Kommentar gebeten hätte. Großes Vergnügen hat mir in dem Zusammenhang das Buch ‚Die Beatles und die Philosophie’ (herausgegeben von Michael und Steve Baur, erschienen bei Tropen bei Klett-Cotta) bereitet: Da wird einem bei einem Ausflug in die monistische Methaphysik von Schelling am Beispiel der Beatles etwas erklärt, das man sowieso schon irgendwie ahnte.
Doch dann war der Traum von Love & Peace vorbei, es wurde zur Kasse gebeten: Money, Money, Money. Darum geht es bei Abba – um nichts anderes, es siegte der ungezügelte Kapitalismus. Ihre Botschaft war NO MORE LOVE, sie besangen Trennungen und Niederlagen. Die haben sie selber vorgelebt. Dennoch bestreiten sie, dass ihre Songs autobiographisch sind. 1974 polterten sie mit ‚Waterloo’ in den Grand Prix Eurovision, wie es damals noch hieß. Das Reglement war geändert worden, es durften auch Gruppen auftreten, nicht nur Einzelinterpreten. Nun kam stürmischer Nordwind auf: So etwas Lautes hatte der seniorenfreundliche Chanson-Wettbewerb noch nie erlebt. Die Rabauken aus dem Norden beschrieben die Liebe als Schlachtfeld. Das tun sie auch in ‚The Winner Takes It All’, was sie selber als ihr bestes Lied ansehen, und das auch im Musical an zentraler Stelle steht.
Bei Abba werden stets die äußerlichen Merkmale gesehen: über 400 Millionen verkaufte Tonträger, über 600 Millionen Dollar hat allein die Verfilmung des Musicals eingespielt. Solcher Art sind die Wertungen, die über sie abgegeben werden, als ginge es immer noch darum, die Höchstpunktzahl zu erreichen. Doch worum geht es inhaltlich? Um es mal in großen Worten zu sagen: Es geht um die Entfremdung des modernen Menschen von seinem Wesen. Schlimm genug, dass der geplagte Zeitgenosse durch den Arbeitsprozess entfremdet wird, er wird es nun auch im Privaten. Der normierte Happy-Pop von Abba markiert eine fortgeschrittene Egalisierung, eine Gleichschaltung der Gefühle: Trauer klingt wie Freude – bzw. umgekehrt.
Teenager, die solche Songs ernst nehmen und darin nach Antworten suchen, merken es schnell: Da stimmt was nicht. „S.O.S.“ klingt nicht nach Hilferuf, sondern nach Partyspaß. One of us is crying hört sich an, als wäre alles in bester Ordnung. Breaking up is never easy, you know, but I have to go, singen sie, doch noch nie erschien es uns so einfach, I feel like I win when I lose, heißt es schon in ‚Waterloo’. Ja, was denn nun? Man hat den Eindruck, dass überhaupt kein richtiges Gefühl mehr hinter den Songs steht oder zum Ausdruck kommen soll. Auch kein Wille. Der einzelne, der noch etwas wollen könnte, taucht in einem unerbittlichen Regelwerk unter, eine wiederkehrende Metapher ist denn auch das Kartenspiel, the name of the game, keine Widerrede, rules must be obeyed.
Die Lieder von Abba strahlen eine spezifische Lieblosigkeit aus. Sie sind nicht rücksichtsvoll, nicht höflich, sie sagen nicht „Bitte“, während die Beatles noch please please me sangen und immer auch selber etwas geben wollten – like I please you – treten Abba einseitig fordernd auf, don’t go wasting your emotions, lay all your love on me, gib mir alles, gimme, gimme, gimme a man after midnight. Sie sind rabiat. Keine Kompromisse: vae victis! The winner takes it all.
Um 1975 wurde die Disco zum Austragungsort des Musikgeschehens. Da kam es auf Äußerlichkeiten an. Zu jedem Song von Abba gab es einen Videoclip mit neuem Outfit. Es war die hohe Zeit der ‚Dancing Queen’, der unnahbaren Schneekönigin. Die sich drehende Kristallkugel – das typische Requisit solcher Nächte – bestand aus Glassplittern des Spiegels aus dem Märchen von Hans Christian Andersen. Der Teufel hatte ihn zerschlagen, die Schneekönigin trug einen Splitter davon im Herzen. In dem Flackerlicht zählte vor allem der Anschein des Erfolgs; Abba war so erfolgreich, weil sie so erfolgreich waren; Abba war bekannt dafür, dass sie so bekannt waren. Ihren großen Durchbruch hatten sie jedoch erst als Revival, als Erinnerung. So konnte auch der Hörer, der das Zeug sowieso nie mochte, es als Hintergrundrauschen zum eigenen Leben wiedererkennen, und der Rückblick ist bekanntlich eine Sonnenuhr.
Eine ähnliche Entwicklung finden wir auch bei Cher, die Mitte der Sechziger im Duo als Sonny & Cher mit ‚I Got You, Babe’ die inoffizielle Hochzeitshymne der Hippie-Generation angestimmt hatte. Viele Paare wünschten sich das damals als „ihr Lied“, es war ja auch zu schön: Zwei gegen den Rest der Welt, sollte die doch klagen, dass die Haare zu lang sind, don’t let them say your hair’s too long. In ihrem Comeback wiederum besingt Cher eine Welt, in der die Gemeinsamkeit aufgekündigt ist, das neue Paar tritt nicht mehr gemeinsam gegen das Establishment an, sondern gegeneinander. Nun werden Forderungen gestellt, nicht etwa an die Welt, sondern an den Partner: are you strong enough?Es wird abgerechnet und die Konkurrenz ist schon abgeschätzt: Die andere Frau ist nicht halb so viel wert, she ain’t worth half of me.
Aus den herben Songs von Abba hat Catharine Johnson nun ein Libretto gebastelt; sie hat getan, was sie konnte, hat rausgeholt, was drinsteckte. Zwischenfrage: Soll man das überhaupt noch ernst nehmen? Ja. Matthias Matussek macht es richtig: Er sucht gerade in der populären Kultur nach Anzeichen, an denen er etwas über unsere Befindlichkeit erfährt, er fragt sich, was wir bereitwillig als Voraussetzung für eine Geschichte akzeptieren und nimmt sich dazu ‚Mrs. Doubtfire’ und ‚Ganz oder gar nicht’ vor. In beiden Filmen wird ein Ehemann ohne Grund von seiner Familie getrennt und kann ab sofort seine Kinder nicht mehr sehen. Offenbar finden wir so etwas normal. Selbstverständlich. Und welche Kröten schlucken wir bei ‚Mamma Mia’?
Wir sind nicht anspruchsvoll, wenn es um die Handlung von einem Jukebox-Musical geht. Dass da eine alleinerziehende Mutter alleine mit ihrer Tochter ein kleines Hotel in bester Lage in Kreta betreibt – geschenkt: Wir erwarten keine soziale Wirklichkeit, wir wollen Spaß und sehen Meryl Streep, wie sie in Latzhose – in der einen Hand den Akkubohrer in der anderen ein Glas Champagner – die Lieder von Abba singt, die dem Fernsehzuschauer womöglich erstmals in der vollen Verlogenheit zu Bewusstsein kommen, weil es Untertitel gibt.
Die Tochter dieser Frau in Latzhose will nun heiraten und wünscht sich, dass ihr Vater sie zum Altar begleitet. Doch wer ist das? Aus dem Tagebuch der Mutter, das sie heimlich ausgewertet hat, kommen drei Kandidaten in Frage. Die hat sie alle drei eingeladen in der Annahme, dass ihr dann ihr Gefühl sagt, welcher der richtige ist: ein etwas anderer Vaterschaftstest also. Es erinnerte irgendwie an die drei heiligen Könige – vielleicht weil gerade Weihnachten war. Die Mutter darf es jedenfalls nicht wissen. Soll ne Überraschung werden. Die drei Männer – unter ihnen auch James Bond – reisen ahnungslos an, als die Mutter ihre Ex-Lover erwischt, wirft sie die gleich wieder raus.
Sie will keinen Mann – einen Akkubohrer hat sie schon. Außerdem zwei beste Freundinnen. Die benehmen sich, als hätten sie etwas getrunken, das sie nicht vertragen; ihr Normalzustand ist betüddelt. Wenn man das Drehbuch um die stets wiederkehrende Phrase „Oh, mein Gott“ kürzte, gingen wahrscheinlich bis zu zehn Prozent des Textes verloren. Ja, wozu sind Väter da? – fragt sich die eine und antwortet gleich selber: Zum Zahlen. Die Dritte im Bunde klagt, dass ihr Vater ihr nach der dritten Scheidung den Geldhahn zugedreht hätte. Das wird ohne Ironie vorgetragen. Hier muss man nicht nach versteckten Botschaften suchen oder einen Philosophen bemühen – must be funny in a rich man’s world. Die Frauen haben einen Plan, in my mind I have a plan, if I get me a wealthy man, I wouldn’t have to work at all.
Die drei angereisten Männer machen alle einen wohlhabenden Eindruck – einer ist sogar auf einer Luxusyacht unter schwedischer Flagge angereist -, sie werden schnell Freunde. Sie reißen sich geradezu darum, Vater sein zu dürfen von der inzwischen reichlich verwirrten Tochter, die so blond ist wie ihre Mutter. Ihr Bauchgefühl gibt ihr keine eindeutigen Signale. Wer ist es denn nun? Das Ausschlussverfahren funktioniert nicht. Kann unter diesen Umständen die Hochzeit überhaupt stattfinden?
Nein, sie platzt. Das junge Paar entschließt sich in letzter Minute die Hochzeitsreise vorzuziehen und vielleicht später zu heiraten. Oder auch nicht. Stattdessen heiratet die Mutter Pierce Brosnan. Die Griechen in ihren hübschen, traditionellen Kostümen sind entzückt. So eine Hochzeit gibt es in ihrer kleinen Kirche auch nicht jede Woche. Die Werte von Ehe, Religion und von Traditionen sind sowieso nur Kulisse. Nun hat die Mutter doch noch einen Ehemann, der plötzlich merkt, dass er sie immer schon geliebt hat und vor ihr auf die Knie geht – mir völlig unverständlich. Und die Tochter hat nun einen sozialen sowie zwei weitere freiwillige biologische Väter. Alles bestens, oder?
Oder auch nicht: In einem Showdown zwischen den beiden Blondinen vor dem Altar blitzt kurz eine Tragik auf: Die Tochter verkündet in überraschender Deutlichkeit, dass sie auf keinen Fall will, dass ihre Kinder aufwachsen, ohne zu wissen, wer der Vater ist. Damit ihr Ausbruch aber nicht als Kritik an der Mutter verstanden werden kann, liegt sie ihr sofort wieder in den Armen. Offenbar hat sie einen Kippschalter, mit dem sie von „Nein, Mutter“ auf „Ja, Mutter“ umschalten kann: Mamma mia!
Dennoch. Damit markiert sie die Bruchstelle der „Generation Scheidung“ – im Film dadurch symbolisiert, dass plötzlich in einem alten Mosaik ein Sprung entsteht, aus dem Wasser sprudelt. So geht es nicht weiter. Die Kinder spielen nicht mehr mit. Das Verhalten der Eltern erscheint damit im neuen Licht. Auch in ‚Feuchtgebiete’ von Charlotte Roche wünscht sich die Heldin, dass die getrennten Eltern wieder zusammenfinden, es fällt nur nicht auf, weil sich andere Themen in den Vordergrund drängen; man möchte fast sagen, dass dieser Aspekt nicht gegen die aufdringlichen Passagen des Buches anstinken kann.
Die Schweden liefern uns für unsere Inneneinrichtung nicht nur Möbel mit niedlichen Vornamen, als sollten wir sie duzen, und Teelichter, die man gleich sackweise einkauft – sie sorgen auch für die Inneneinrichtung im weiteren Sinne: nicht bloß für unserer Wohnung, auch für innere Werte. Und sie können ziemlich aggressiv werden, wenn es darum geht, sich als Weltgewissen aufzuspielen und anderen ihre jeweils neuesten Maßstäbe aufzudrängen. Erst beglückten sie die Welt mit Vorbildern: Bildungsreform mit Kurzschuljahr und Mengenlehre, Teamwork bei Volvo, soziale Angleichung, gläserne Bürger, Verstaatlichung, liberale Gesetzgebung und vorauseilender Lockerung der Sitte, was sich bei uns in Soft-Pornos wie ‚Hurra, die Schwedinnen sind da’ niederschlug. Nun sind die wieder weg, und Schweden entwickelte sich zu dem, was Julian Assange das „Saudi-Arabien des Feminismus“ nennt.
2006 sollte die schwedische Fußball-Nationalmannschaft den Sommer-Traum der WM boykottieren, um damit gegen die Zwangsprostitution zu protestieren. Sie hatten dazu ihrerseits gerade ein neues Gesetz erlassen, das sie am liebsten auch bei uns einführen wollten und unterstellten dazu, dass es in Deutschland ca. 50.000 Zwangsprostituierte gäbe. Damit war gleichzeitig gesagt, dass wir hier keinen funktionierenden Rechtsstaat hätten und in einem moralischen Morast stecken. Sie können ziemlich unverschämt sein, diese Nordlichter. Dabei meinen sie es doch nur gut mit ihrem erhobenen Zeigefinger – als typisches choreographisches Element bei Abba ist es nicht nur der Finger, sondern gleich der ganze hochgesteckte Arm in ‚Super Trouper’ – und natürlich mit dem Leuchtfeuer des Nobel-Preises für das Gute in der Welt.
Zum Glück mussten die Fußballer letztlich doch nicht als Spielverderber in die Sportgeschichte eingehen. Es wäre auch ein Eigentor geworden. Sie wurden statt dessen ehrenvoll auf dem Fußballfeld geschlagen – mit 2 : 0. Als sie aus dem Turnier gekickt wurden, verabschiedeten sich die deutschen Fans mit der nach der Melodie von ‚Yellow Submarine’ improvisiert gesungenen Parole „Ihr seid nur noch Möbellieferant“. Und das ist auch gut so. Nur das, bitte! Gerne richten wir die Wohnung nach nordischem Geschmack ein, aber nicht die Seele. Also: Sörgarden und Edefors ja – Abba nein. Und Vorsicht bei weltanschaulichen Schwedenimporten. Unbedingt die Risiken und Nebenwirkungen beachten!
Übrigens: die familyCard von IKEA kann man auch als Single weiterbenutzen.
Ursprünglich wollte ich mein Heimatlied an Horst Seehofer schicken, doch der hat gerade so viel um die Ohren, dass ich nicht erwarten kann, dass er sich das in Ruhe anhört. Ich hatte aber schon angefangen, ihm zu schreiben:
Sehr geehrter, lieber Herr Minister Horst Seehofer, grüß Gott!
Sie sind unser Minister für Heimat. Ich habe was für Sie: ein selbstgemachtes Heimatlied, bei dem ich mich auf dem Riesen-Pling-Plong begleite. Es könnte Ihnen gefallen. Es könnte ein verbindendes Lied der Deutschen sein, das den Osten mit dem Westen und den Norden mit dem Süden vereint. Zumindest hoffe ich, dass mein kleines Nordlicht bis hinunter nach Bayern leuchtet und dass mein Lied die Ossis und Wessis umarmt und vielleicht sogar die Generationen zusammenführt …
So wollte ich anfangen. Ich wollte nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen und schon zu Anfang verraten, warum ich ihm das Lied an sein Minister-Herz legen wollte. Doch beim Hinausgehen, am Ende meines Schreibens, wenn ich sozusagen die Tür wieder leise schließe – wenn ich also die Tür wieder „zu“ mache –, sollte schon deutlich werden, was es heißt, eine Heimat zu haben.
Die Zerrissenheit des modernen Menschen
Man kann sagen, dass mein Lied jenseits von Gut und Böse ist, denn ich besinge die Heimat weder als etwas Gutes, wie es die Heimat-Heinis normalerweise tun, noch als etwas Böses. Das Lied zeigt – Pling, Plong – meine Zerrissenheit, die stets aufs Neue aufbricht, wenn es um die Heimat geht.
Früher habe ich manchmal im Scherz gesagt: „Von der Zerrissenheit des modernen Menschen kann ich auch ein Lied singen – zweistimmig“. Das war ein Spruch, den ich leichtfertig dahingesagt habe. Klar: Natürlich kann ich nicht mit mir selber zweistimmig singen, aber abgesehen davon stimmt es.
Als ich das Lied entworfen habe, habe ich mich an zwei Vorbildern orientiert: an Georg Kreisler und an meinem Großvater aus dem kalten Osten, der Akkordeon spielen konnte. Er hatte ein überschaubares Repertoire von Liedern, bei denen beim Zuhörer entweder still im Aug‘ die Träne erglänzte oder der Effekt eintrat, dass er von der Überdosis Rührseligkeit vom Hocker gerissen wurde.
Je älter ich wurde, desto öfter blieb der Hocker frei. Dennoch mochte ich die Lieder irgendwie. Es war schließlich mein Opa, der sie spielte. Außerdem sollte man den Musikgeschmack der einfachen Leute respektieren, noch dazu, wenn sie in der DDR leben mussten, wo es auch keine richtigen Autos gab, nicht mal richtige Spielzeugautos wie die von Matchbox und natürlich keine modernen Lieder. Die DDR war voll von Ruinen und Überresten aus alten Zeiten. Da war ich geboren, lebte aber nicht mehr da, ich kam immer nur in den Sommerferien rüber. War das trotzdem meine richtige Heimat? Mein eigentliches Zuhause?
Da gab es transusige Lieder von einem gewissen Mariechen, das weinend im Garten saß und von einem Mädchen in einem Polenstädtchen, das nicht küssen wollte, und schön war wie Milch und Blut.
So stellte ich mir Heimatlieder vor:
Sie sollten nach Möglichkeit eine genaue Ortsangabe enthalten wie zum Beispiel Buda-Budapest, wo die Julischkalebte, die sich ebenfalls nicht küssen lassen wollte, oder Treuenbrietzen. Opa wohnte nicht weit davon in Coswig, nahe der Lutherstadt Wittenberg. In einem anderen Lied ohne genaue Ortsangabe hieß es immer „da rief sie Heimat, süße Heimat, wann werden wir uns wiedersehn?!“
Opa schien das locker zu nehmen. Es waren Lieder, die der Oma gefielen. Lenin hatte bekanntlich gesagt, dass man die Revolution mit den Leuten machen müsse, die gerade da wären. Womöglich hatte Opa auch so gedacht: Er spielte die Lieder, die nun mal da waren. Angela Merkel denkt bekanntlich ähnlich von den Migranten, die zunächst Flüchtlinge genannt wurden: Nun sind sie halt da.
Man konnte ihm ansehen, dass er ein ironisches Verhältnis zu allem hatte: zu den Liedern, zur Heimat, zu Küssen und zum Kommunismus. Vielleicht lag es daran, dass er asbach uralt war und die Lieder schon oft gespielte hatte, dass sich eine Distanz ganz von alleine eingestellt hatte – oder daran, dass er von Lenin wusste, dass der echte Revolutionär sich stets einen Rest von Selbstironie bewahren sollte, und dass er das auch anstrebte.
Opa war gut vertraut mit den Grundlagen des Marxismus-Leninismus. Das ließ er gelegentlich durchblicken. Etwa, wenn er die Werkzeugkiste öffnete und sagte: „So, dann wollen wir mal zu Hammer und Sichel greifen“ oder wenn er mich ins Bett steckte und, statt mir eine Gutenachtgeschichte zu erzählen, nur kurz die Parole ausgab: „Schlaf schneller, Genosse, dein Bett wird gebraucht!“
Auch bei den Liedern blinzelte er mir verschwörerisch zu, als wollte er sagen, dass er, genau wie ich, der Meinung war, dass diese Frau, die immer „Heimat, süße Heimat“ rief, einen Knall hatte und zwar einen ziemlich lauten. Wir trieben sogar vorsätzlich Schabernack mit dem Lied und verletzten dabei womöglich Gefühle von Minderheiten.
Das Mädchen aus dem Polenstädtchen ertrinkt zum Schluss: In einem Teiche findet man eines Tages ihre Leiche und es heißt – was ich sehr bemerkenswert fand: „Sie hielt ‚nen Zettel in der Hand, worauf geschrieben stand: Ich hab‘ einmal geküsst und schwer gebüßt“.
Heimat der Wasserleichen
Man konnte das nur mit innerem Grinsen aushalten. Es war schließlich die Zeit der Beatles. Die Lieder, die ich wirklich gerne mochte, hörten sich anders an, das waren keine Bänkel-, Volks-, Heimat- oder Wanderlieder, das waren Songs. Da ging es um love and kisses und um beautiful girls, von denen ich nicht annahm, dass sie sich nicht küssen lassen wollten. Das gefiel mir besser.
Die Heimatlieder gefielen mir nicht so gut. Milch und Blut waren weder meine liebsten Getränke – schließlich war ich kein Kind mehr und auch kein Vampir –, noch könnte man mit den Schlagworten „Milch“ und „Blut“ mein damaliges Schönheitsideal zutreffend beschreiben. London war mir näher als Warschau. Polen war außerdem schwer erreichbar, es lag weit hinter dem eisernen Vorhang, war aber noch nicht verloren.
Mehr und mehr bildete ich mir meinen eigenen Geschmack. Dennoch mochte ich auch die Hits von Anno Dazumal. Das Bänkellied – das habe ich allerdings erst später erfahren – war in der guten, alten Zeit so etwas wie der Punk von der letzten Bank, der mit absichtlichen Geschmacksverirrungen auftrumpfte, um die Nasenrümpferinnen fernzuhalten. Erst wenn sich die feinen Damen kopfschüttelnd verzogen hatten, wurde es auf den wackeligen Bänken im Hinterhof gemütlich.
Geschmacklosigkeiten gehörten als Stilelement dazu. Das fand Opa auch. Da waren wir uns einig. Aus Jux und Dollerei sangen wir im Anschluss an das tragische Ende der polnischen Schönheit, wenn ihre Leiche aus dem Wasser gezogen wurde: „Da rief sie Heimat, süße Heimat, wann werde ich dich wiederseh’n“, obwohl die Textzeile da nicht hingehörte und uns beiden klar war, dass Wasserleichen nichts mehr rufen können.
Das war ja der Witz an der Sache. Irgendwie passte die Unstimmigkeit zu dem besungenen Heimatgefühl, an dem auch irgendetwas nicht stimmte. Ich wusste nur noch nicht, dass es etwas mit dem Zeitparadox zu tun hatte und der vergeblichen Liebesmüh, etwas Totes lebendig zu halten. Ich spürte, dass da irgendwas faul war. Die Texte waren mündlich überliefert. Die stimmten sowieso nur knapp zur Hälfte, und die Schönheiten waren auch schon lange tot. Ein Heimatlied, so dachte ich damals, war ein unzeitgemäßes, minderwertiges Musikprogramm für Wasserleichen.
Vielleicht war mir deshalb die Heimat so unheimlich. Heimat war ein verwunschener Ort, der von Untoten bewohnt war, die einen Zettel in der Hand hielten, auf denen eine bedrohliche Botschaft stand. In der Heimat gab es dunkle Kellerräume, in denen immer noch Leichen lagen, was kurz nach dem Krieg nicht weiter verwunderlich war. Da hatten die Leute eben noch Leichen im Keller. Deshalb hatte ich immer Angst, in den Keller zu gehen und zwei Schippen Kohlen zu holen.
Küsse gehörten nicht zur Heimat. Tränen ja, Küsse nein. Küsse waren Fremdkörper in der Heimat. Doch da war ich nicht sicher, meine Vorstellung davon, wie oft ein schönes Mädchen küssen sollte, waren noch in der Entwicklungsphase. Mir war auch nicht klar, ob die Formel „Einmal ist keinmal“, die auf dem Land kursierte, auch für Küsse galt.
Das alte Schnitzel wird zum letzten Mal gegessen
Meine zweite Inspirationsquelle war Georg Kreisler. Wir hatten Langspielplatten von ihm, die noch richtig knisterten – so wie das Silberpapier, wenn man eine Tafel Schokolade aufreißt. Kreisler sang eindrucksvolle Lieder über Wien, über Gelsenkirchen und über das Alpenglühen, das alle Vergänglichkeiten dieser Welt überdauert.
Das hatte es mir besonders angetan. Es ist ein ergreifendes Stimmungsbild voller Endzeitvisionen, die gut zu Wasserleichen passten: „Das alte Tannenwäldchen schickt die letzten Grüße … Der alte Förster wäscht zum letzten Mal die Füße … Der alte Meter wird zum letzten Mal gemessen … Das alte Schnitzel wird zum letzten Mal gegessen … Der alte Hofhund raucht die letzte Zigarette … die alte Leiche liegt zum letzten Mal im Sarg.“
Kurz: Heimat war das Letzte. Man konnte nur darüber spotten. Oder etwa nicht?
War es womöglich ganz anders? War Heimat etwas Wertvolles und Wesentliches; etwas, das über allen Wipfeln und über allen Zipfeln von Gartenzwergen stand, über allen Moden – als Inbegriff einer alten Hoffnung?
Ich habe Ernst Bloch gelesen wie ein ungeduldiger Krimi-Konsument, der neugierig im letzten Kapitel nachguckt, wer denn nun der Mörder ist. So bin ich vorgedrungen bis zu dem berühmten Finale aus dem dreibändigen Werk „Prinzip Hoffnung“: Da heißt es: „… so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“
Da scheint also etwas, das man Heimat nennt, in die Kindheit hinein wie ein Lichtschein unter einem Vorhang im Theater. Auch die Sprache von Ernst Bloch leuchtet gelegentlich auf, da gibt es Formulierungen wie: „Zukunft in der Vergangenheit“, „Dunkel des gelebten Augenblicks“ oder „Melancholie des Erreichten“.
Heimat wäre demnach nicht etwa ein versunkenes Etwas, das in der Vergangenheit liegt, nach der sich die Ewiggestrigen vergeblich zurücksehnen, sondern vielmehr etwas, das in der Zukunft liegt, die von den Ewigmorgigen angestrebt wird. Da stellt sich dann schon die bange Frage: Hatte ich bisher überhaupt eine Heimat? Werde ich jemals eine haben?
Eine Heimat hatte ich womöglich nicht, eine Kindheit schon. Ich hatte, wie ich betonen will, keine unglückliche Kindheit. Das klingt zunächst wie ein Vorteil, kann sich aber auch als Nachteil erweisen – wenn man nämlich Schriftsteller werden will und sich nach Ernest Hemingway richtet. Hemingway, den ich hier in aller gebotenen Hemdsärmeligkeit aus dem Gedächtnis zitiere, meinte, dass eine unglückliche Kindheit die beste Voraussetzung wäre, später ein halbwegs guter Schriftsteller zu werden.
Egal. Ich würde niemals die doppelte Menge einer erfolgreichen Schriftstellerkarriere gegen meine Kindheit eintauschen. Geht auch nicht. Außerdem hat meine Kindheit keinen besonders hohen Tauschwert. Ich bin in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, ich war ein Flüchtlingskind. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum ich immer noch so viele Flüchtigkeitsfehler mache.
Nun lebte ich am Fuße des Werscher Berges.
Doch das war kein richtiger Berg, das war eine bescheidene Erhebung; ein Trostpreis, mit dem ich mich nicht abfinden wollte; ein Witz im Vergleich zu den Alpen, die noch richtig glühen konnten. Es war eben das, was da war.
Da habe ich Buden gebaut. Da habe ich mit Günter Disselbeck im Winter mit unseren Schlitten Abfahrtsbahnen ausprobiert. Eine nannten wir einfallslos „Zick-Zack-Bahn“, eine andere angeberisch „Todesbahn“. Auf der Zick-Zack-Bahn war es dann auch – und nicht etwa auf der Todesbahn –, auf der ich tatsächlich beinahe zu Tode gekommen wäre. Dann hätten die Bahnen die Namen tauschen können. Aber selbst mit einem Krankenhausaufenthalt qualifizierte ich mich nicht für eine unglückliche Kindheit nach den strengen Anforderungen von Hemingway.
Also Kindheit ja, aber Heimat? Ich war aus dem Osten. Da war ich „von wech“, wie die Norddeutschen sagen, die aus unerfindlichen Gründen nur ungern ein „g“ aussprechen, als hätten sie was dagegen. Vielleicht können sie es nicht. Sie sagen auch: Werscher „Berch“.
Heimat ist eine zue Tür
Hertha Müller kann auch etwas zum Thema beitragen. Sie sagte, wie ich ebenfalls locker aus dem Gedächtnis zitiere: Heimat sei das gesprochene Wort. Der Klang der Sprache sei es, der das Heimatgefühl ausmacht. Opa hätte gesagt: Der Ton macht die Musik.
Demnach müsste mir der Sound des gesprochenen Wortes im Landkreis Osnabrück das richtige Heimatgefühl bereiten. Doch das tut er nicht. Oder nur ein bisschen. Die Leute reden so, wie die Flimmergestalten im Fernsehen reden. Das schafft kein Heimatgefühl. Weiter im Norden reden sie wie Hein Blöd. Das kann jeder. Man muss nur die Vokaaale verlääängern.
Es gibt zwar gewisse sprachliche Besonderheiten des Osnabrückerischen, doch für einen richtigen Dialekt reicht es noch lange nicht. Die Leute in der Gegend sagen: „ausses Auge“, „abbes Bein“ und „zue Tür“ – und sie kennen das Geheimnis der Zufriedenheit. Wenn sie sagen, dass sie „nicht gut zufrieden“ sind, meinen sie, dass sie krank sind. Ich weiß das deshalb, weil meine Mutter Lehrerin war und viele Entschuldigungszettel lesen musste, auf denen sich die Schüler entschuldigen ließen, weil sie „nicht gut zufrieden“ waren.
Neulich gab es eine Studie, in der untersucht wurde, wie zufrieden die Menschen in Deutschland sind. Ganz schlecht schnitt Dessau ab. Da sind die Leute überhaupt nicht zufrieden. Ausgerechnet das ist die Gegend, wo ich herkomme, wo ich von wech bin. Ich müsste demnach zutiefst unzufrieden sein. Doch ich habe auch am Werscher Berg gelebt. Der wiederum liegt im Landkreis Osnabrück.
Der Landkreis hat besonders gut abgeschnitten. Just in dieser Gegend sind die Menschen der Studie zufolge sehr gut zufrieden, was allerdings daran liegen könnte, dass sie nicht wissen, wovon sie reden, wenn sie Angaben über ihre Zufriedenheit machen sollen.
Das gesprochene Wort grenzt aus. Man erkennt schon am Klang, wer dazugehört und wer nicht. Auch die Sprache von Ernst Bloch ist eine Sondersprache, die so manchen Bewohner der Heimat ausgrenzt. Es gibt Leser, die schauen sich eine Seite seiner Prosa an und sagen: Nee, das kann ich nicht lesen.
Sondersprachen sind wie Igel. Sie rollen sich zusammen, damit es nach innen warm ist, und sie sticheln nach außen. Wer Dialekt spricht, sagt zu allen anderen: Wech!, Wech!, Wech mit dir, du gehörst nicht dazu. Der Dialekt ist eine zue Tür.
Auch die Heimat ist eine zue Tür. Sonst wird es ungemütlich und zieht wie Hechtsuppe. Ich war mal in einem Hotelzimmer, da ist plötzlich in der Nacht die Tür aufgegangen, einfach so. Es ist nichts weiter passiert. Es kam kein Gespenst, kein Einbrecher – nichts –, es blieb ein Geheimnis. Plötzlich war die Tür aufgegangen. Von selber. Man fühlt sich in Hotelzimmern sowieso nicht heimelig. Mit offener Tür war es besonders schlimm.
Es ist nicht schlecht, eine Heimat zu haben – mit einer Tür, die man zumachen kann. Wer eine Heimat hat, hat auch nichts dagegen, dass andere ebenfalls eine haben. Im Gegenteil: Er kann sich vorstellen, was es bedeutet, eine zu haben.
Bei dem Instrument handelt es sich um ein pädagogisch wertvolles Spielzeug von der Firma Purzelzwerg mit dem angeberischen Namen Riesen-Pling-Plong. Ich hätte es anders genannt. Aber bitte: Wenn eine derartig kleine Spieluhr als „Riesen-Pling-Plong“ durchgeht, dann kann man auch die bescheidene Erhebung in Wersche als „Berg“ bezeichnen.
Das Riesen-Pling-Plong wird mit einem Lochstreifen betreiben, den man selber lochen muss. Durch die Löcher erhält man ein bekanntes Volks- und Heimatlied wie zum Beispiel Am Brunnen vor dem Tore. Man kann sich in kreativer Heimarbeit auch ein eigenes Volks- und Heimatlied zusammenlöchern. Das habe ich getan. Es wurde ein Lied wie das Leben: alles selber gemacht. Das Riesen-Pling-Plong erwies sich als das ideale Instrument für mich und meine Möglichkeiten. Wenn die Löcher erst mal drin sind, kann man keine weiteren Fehler mehr machen.
Die musikalischen Möglichkeiten halten sich in Grenzen. C-Dur. Es gibt einen überraschenden Wechsel auf d-moll und einen halben Takt, der versehentlich entstanden ist und dem Lied etwas Schwung verleiht, außerdem ein kleines Solo. Es klingt von ganz alleine so, als würde man damit von der Zerrissenheit des modernen Menschen singen, mit „inniger Ironie“, wie Peter Handke womöglich sagen würde.
Es gibt verschiedene Live-Aufnahmen und eine Instrumentalversion von Hans Metsch, der sich früher Hansi nannte und zusammen mit Fritz Fleischer alte, mittelalte und sogar noch ältere Lieder auffrischte. Thommie Bayer hat eine Studio-Aufnahme eingespielt, bei der man, wenn man genau hinhört, im Hintergrund Mähdrescher, Posaunen und Vogelstimmen hören kann.
Auf den Bildern sieht man das alte Schulhaus, das in der Abenddämmerung, wenn die Schüler längst wech waren, von den schüchternen Rehen heimgesucht wurde. Zum Schluss erkennt man Reh-Spuren im Schnee vor der Silhouette des Werscher Berges, die in ihrer Symmetrie an die Gaußsche Normalverteilungskurve für Männer erinnert (die Kurve für Männer ist bekanntlich flacher als die für Frauen).
Oho! In Tübingen gab es Protest. Wer macht denn so etwas?
Ich. Ich protestiere. Hiermit.
Das Stadtmuseum präsentiert noch bis Juli eine ungewöhnliche Ausstellung – genau gesagt eine Interventionsausstellung – mit dem Titel, „Protest!“ und dem Untertitel „Stricken, Besetzen, Blockieren – in den 1970/80er Jahren in Tübingen.“
Für mich hieß das: Nichts wie hin. Schließlich war ich live dabei. Beim Protest – nicht beim Stricken. Schon im ersten Raum überrumpelten mich die Erinnerungen; die Plakate des Club Voltaire begrüßten mich wie alte Freunde und ich dachte mir: Die Handschrift kenne ich doch. Richtig! Die Poster sind alle von dem unermüdlichen Aktivisten Eckard Holler beschriftet, als hätte er sie persönlich signiert.
Auf einem kleinen Bildschirm läuft ein Film, der Festival-Bilder zeigt, die mir ebenfalls bekannt vorkommen. Sie stammen, so steht es auf dem Beipackzettel, aus dem Jahre 1986. Über Kopfhörer kann man sich den Kommentar dazu anhören. Die Stimme kommt mir auch bekannt vor. Es ist meine eigene.
Schon ist es soweit. Schon muss ich protestieren und intervenieren. Denn schon ist mir klar, was an der Ausstellung nicht stimmt: Sie ist nicht richtig im Kalender einsortiert. Damit verliert eine Ausstellung zum Thema „Protest“ seinen Sinn. Protest ist an Aktualität geknüpft, an ein Verständnis der historischen Umstände. Zwar beanspruchen die „Studierenden“, wie sie im Vorwort des Katalogs schreiben, die Protestkultur „historisch verortet“ zu haben, doch genau das haben sie nicht getan. Zeit und Raum haben sie nicht richtig auf die Reihe gekriegt.
Werner Heisenberg mit seiner berühmten Vorstellung von der Unschärferelation bei einer Orts- und Zeitbestimmung ist der heimliche Schirmherr dieser Ausstellung: den Ort können wir präzise bestimmen; der Ort ist Tübingen: Längengrad 9.0536, Breitengrad 48.5369. Doch die Zeit … na ja – wer weiß das schon? –, das war irgendwann in den 70er oder 80er Jahren, im Dunkel des gelebten Augenblicks, wie Ernst Bloch womöglich sagen würde. Vielleicht war es vor 1975, vielleicht nach 1985, kommt nicht so drauf an – oder?
Doch. Es kommt darauf an. Den Text habe ich 1977 gesprochen. Nicht 1986. Damals wollten wir mit Bordmitteln eine Dokumentation erstellen, weil es sonst niemand machte. So entstanden die ersten bewegten Bilder von den Festivals, wie sie der Club Voltaire ab 1975 veranstaltete. Mit der Stoppuhr in der Hand habe ich den Text entworfen und gleich selber auf die Tonspur gesprochen wie ein Tourist, der seine Urlaubsreise in Super8 gefilmt hat und anschließend vertont. Es war eine Selbstdarstellung.
Und dann? Dann äußert sich – wir sind immer noch im selben Film – eine Besucherin und sagt: „Ein bisschen sehe ich die Gefahr, so wie es bei Musik meisten ist, dass man sich so von der Musik einnehmen lässt, dass man gar nicht auf die Texte achtet.“ Wie kommt diese Frau in den Film?
Schwäbischer Wein zum herabgesetzten Preis
Der Film ist verpanscht. Da wurden einfach mehrere Jahrgänge von gutem und von weniger gutem Wein zusammengeschüttet. Übergangslos ist der Amateur-Film zu einem professionellen Film geworden. Aus dem Selbstzeugnis wurde eine Fremdwahrnehmung. Allerdings eine aus einer anderen Zeit. Die Frauenstimme stammt aus dem Jahre 1985.
Inzwischen gab es mehrere Fernsehberichte über die späteren Festivals mit den üblichen (willkürlichen) Publikumsbefragungen. Die hat man kurzerhand dazu gemischt, und so wurde mit einem groben Kochlöffel all das zusammengerührt, was sich in einem Zeitraum von zehn Jahren entwickelt hat. Alles, was sich im Spannungsfeld zwischen Grenzüberschreitung und Wiederholung, zwischen Initiative und Verwaltung abgespielt hat, wurde zu einem Einheitsbrei vermanscht. Guten Appetit. Das soll „Protest“ sein? Bei dem Stichwort denken manche womöglich an die Studentenbewegung. Wann war die eigentlich?
Der Film zeigt Bilder von einem nur spärlich gefüllten Schlosshof aus dem Jahre 1985. 1975 sah das anders aus. Die ersten Festivals hatten uns vor das Problem gestellt, Ausweichorte zu finden, weil der Schlosshof überfüllt war, und – so muss man richtigerweise sagen – die Leute kamen gerade, weil sie neue Texte hören wollten. So war es nämlich angekündigt. Wenn ein Besucher etwas anderes erwartet hatte, war er falsch.
Die Festivals nannten sich – die richtige Bezeichnung ist der Schlüssel zum richtigen Verständnis – „Folk- und Liedermacherfestival“. Mit dem Reizwort „Liedermacher“, das damals noch einen anderen Klang hatte als heute, konnte man Besucher aus nah und fern anlocken. Ein Liedermacher war eine große Neuigkeit und eine kleine Sensation. Er machte alles selber, das war schon mal gut; ein Liedermacher bot mit seinen selbst gemachten Liedern, auch wenn sie etwas unbeholfen daherkamen, eine Alternative zur kommerziellen Kultur; ein Liedermacher kannte womöglich neben seinen eigenen Stücken auch die neuesten Protestsongs aus der großen, weiten Welt. Ein Liedermacher gehörte – wenn auch entfernt – zur Großfamilie von Bob Dylan oder von Heinrich Heine. Darin lag der Reiz.
Wo war da die Gefahr, dass die Zuhörer so sehr von der Musik eingenommen wurden, dass sie nicht auf die Texte achteten? Etwa – um mal die Künstler, um die es geht, konkret zu nennen – bei Christof Stählin, Georg Kreisler, Hannes Wader, Walter Mossmann, Günther Wölfle, Thommie Bayer oder später bei Wolf Biermann? Nichts da. Man müsste der Kommentatorin zurufen: Umgekehrt wird ein Damenschuh draus. Die Besucher kamen, um kritische oder künstlerisch ambitionierte Texte zu hören, aktuelle oder historische. Protest (und darum geht es schließlich) war nicht nur die Frage einer grundsätzlichen Haltung, Protest hatte auch konkrete Inhalte.
Jan Weber dagegen fand bereits das erste Festival in Tübingen im Vergleich zu dem, was er zehn Jahre zuvor erlebt hatte, harmlos und unbedeutend. „Ein Liedermacherfestival 1965 war Grund für Unruhe unter den verfassungsschützenden Organen“, schrieb er, „1975 gehört es zur gewohnten Szene“. Aber nein. Das Festival war etwas Neues, Überraschendes, Ungewöhnliches und gehörte keineswegs zur gewohnten Szene. Es war auch nicht klar, was davon zu halten war – und was daraus noch werden würde.
Mit dem geheimnisvollen Festival aus dem Jahre 1965 meint Jan Weber das Bardentreffen auf der Burg Waldeck, für das er seinerzeit Rundfunkaufzeichnungen organisiert hatte. Auch er geht sehr großzügig mit der Datierung um; denn so spannend war es da im Jahre 1965 auch nicht gewesen, erst 1968 brach die politische Unruhe in die Abgeschiedenheit der Wald- und Riesenromantik ein, als es hieß: „Stellt die Gitarren in die Ecke und diskutiert“.
In der Universitätsstadt Tübingen wurde sowieso diskutiert. Hier war die Invasion der Gitarren die große Neuigkeit. Zudem liegt die Burg Hohentübingen nicht etwa schwer zugänglich irgendwo im Hunsrück, sondern mitten im Ort. 1975 wurden da die Türen und Tore geöffnet, mit dem Festival trat der Club Voltaire, der bisher ein Nischendasein geführt hatte, „ins Offene“, wie Hölderlin vielleicht sagen würde. Nicht nur das Unigelände, die gesamte Stadt wurde eingenommen, an allen möglichen Plätzen entstanden improvisierte Bühnen.
Der kritische Beobachter Thomas Rothschild legte sogleich die Stirn in Sorgenfalten, solche Festivals, gab er zu bedenken, würden schließlich zu einer „akustischen Stadtverschönerung“ führen. Wohl wahr. Nun ist es so weit. Nun gehört eine Gitarre ganz selbstverständlich zum Stadtbild, nun kann man wirklich sagen, dass sie zur gewohnten Szene gehört. Ein bisschen Festival ist inzwischen überall in der Stadt.
Es scheint unglaublich, es ist dennoch wahr: Anfang der 70er Jahre konnte man in Tübingen mitten auf dem Marktplatz parken. Es gab nirgendwo Straßenmusiker. Es gab nicht einmal eine Fußgängerzone. Es gab keinen Bioladen – nur ein Reformhaus. Kann sich noch jemand erinnern? Saß jemals irgendwer auf einem der Balkone? Ich glaube nicht. In meiner Erinnerung hockten die Schwaben auch bei bestem Wetter grundsätzlich nicht draußen, damit auch ja niemand den Eindruck haben könnte, sie würden gerade nicht schaffen.
Das hat sich geändert, the timest they are a-changing. Inzwischen hat sich Tübingen in ein arkadisches Müslingen verwandelt, es ist eine weltoffene, freundliche Gartenstadt geworden. Man sitzt selbst bei leichtem Nieselregen im Freien, lacht, hält sich an den Händen, beglückt die Straßenmusiker mit großzügigen Spenden, und der Goldstaub des Paradieses funkelt in den Weingläsern.
Ist das alles den Festivals zu verdanken? Natürlich nicht. Wem dann? Hegel weiß es: dem Zeitgeist. Der hat den Kulturwandel angestoßen. Willy Brandt hatte schon Anfang der siebziger Jahre das Schlagwort von der „Lebensqualität“ ausgegeben; auch das Stichwort „Alltagskultur“ war nicht nur innerhalb der Räume des Ludwig-Uhland-Instituts für Empirische Kulturwissenschaften zu hören. Das Leben wurde heiter und bunt. Wo blieb da der Protest? Wie sah er aus? Bestand er darin, gegen etwas zu sein. Oder war er auch für etwas?
Girls just wanna have fun
Eben das hätte die Ausstellung zeigen können. Es wäre gut möglich gewesen. Für eine historische Verortung, wie es sich die Ausstellungsmacher vorgenommen hatten, hätten sie ein wenig nach links und rechts schauen müssen, sie hätten das Besondere leicht erkennen können. Festivals mit Folkmusik zum Mitsingen, Händchenhalten und Küsserauben gab es nicht nur in Tübingen. Auch anderswo tanzten junge Frauen in wehenden Gewändern zu wehmütigen Klängen barfuß im Kreis herum.
Damals bot auch die Sparkasse Vergnügungen an, die sich „Folk & Fun“ nannten. Schon ein flüchtiger Vergleich hätte die Unterschiede zu dem, was der Club Voltaire veranstaltet hat, deutlich gemacht. Doch die Ausstellungsmacher haben die Folkmusik eben nicht in ihrer historischen Verortung verstanden, sie haben sie lediglich als das Gegenteil von politischen oder künstlerischen Ansprüchen gesehen – nur als fun.
Im Katalog zur Ausstellung schreibt Judith Rühle: „In den ersten drei Jahren stand Folk-Musik im Mittelpunkt der Festivals“. Das ist falsch. Damit entgeht ihr der Witz. Und obendrein die Pointe. Wir müssen nur mal einen flüchtigen Blick auf die Plakate werfen – was sehen wir da? Im Mittelpunkt der Festivals stand nicht „Folk“, sondern „und“. Die Festivals nannten sich „Folk und Liedermacher-Festival“. Und!
Der Witz an der Sache war die Gemeinsamkeit, die gute Verträglichkeit der beiden Programmpunkte. Liedermacher und Folkies, wie man sie vertraulich nannte, gingen Hand in Hand durch Tübingen und taten es gerne: die Folkies hatten die Tradition im Gitarrenkoffer, die Liedermacher die Aktualität; die Folkies schleppten die Schwere des Gefühls an, die Liedermacher erfreuten sich am Leichtsinn der Gedanken; die Folkies brachten die alte Musik auf die Bühne, die Liedermacher die neuen Texte. Es war nicht nur ein zufälliges Nebeneinander. Es war ein echtes Miteinander, zu dem sich noch die Gitarrenvirtuosen gesellten. Erst zusammen ergab es ein Ganzes. Das war das offene Geheimnis.
Doch Judith Rühle versucht, die Pole gegeneinander auszuspielen: Folkmusik war ihrer Darstellung nach unpolitisch, und politische Texte wollten die Leute eigentlich nicht hören. Um das zu untermauern, bemüht sie noch einmal die mäkelige Frauenstimme aus dem Film sowie weitere Stimmen, die zugeben, dass sie einfach nur Musik hören, Leute treffen und tanzen wollten, und sie weiß zu berichten, dass bei einem Auftritt der Gruppe Lilienthal die Instrumentalstücke mehr Applaus gekriegt hatten als die Lieder über den Widerstandskampf der Weißen Rose.
Schon in der Überschrift ihres Artikels stellt sie eine falsche Frage: „Lieber leicht konsumierbar anstatt avantgardistisch“? Vor so einer Alternative standen wir nicht. Warum nicht beides? Die wahrscheinlich beliebteste Gruppe, die gleich mehrfach zu Gast war und die, wenn man mich fragt, am besten das Zusammenspiel der verschiedenen Ansprüche verkörpert – also die typische Festival-Gruppe schlechthin –, war die Gruppe Poesie und Musik (mit Orlando Valentini, dem inzwischen verstorbenen René Bardet und dem inzwischen international bekannten Andreas Vollenweider). Sie nannten sich bekanntlich „Poesie und Musik“, nicht etwa „Lieber leicht konsumierbare Musik anstatt anspruchsvoller Poesie“ – also „und“, nicht „lieber … anstatt“.
Wenn es das seltsame Wort „Alleinstellungsmerkmal“ damals schon gegeben hätte, hätte ich es damals schon nicht gemocht, doch ich hätte sagen können, worin das Alleinstellungsmerkmal der Festivals bestand und womit sie das Hinweisschild NUR HIER verdient hätten: Es war die Nähe zur Universität. Na gut, auch bei den Festivals in Mainz liegt eine Uni in Reichweite, aber Tübingen hatte Hegel und Bloch. Wenn wir uns die Universität als eine (von mir aus selbstgestrickte) Socke vorstellen, dann wurde mit den frühen Festivals diese Socke von innen nach außen gestülpt. Die Universität ist traditionell der Ort für die Welt des Geistes – für den Weltgeist. Der wurde freigesetzt und schwirrte zusammen mit den angereisten Geistern aus aller Welt mit Musikbegleitung durch die Gassen.
Wohin gehen wir? Immer nach Hause
Nach dem Blochschen Geschichtsverständnis war es möglich, einen Rahmen abzustecken, in dem dieses neuartige Phänomen, das sich „Folk“ nannte, vorläufig einsortiert werden konnte. Damit konnte der Sache ein eigener Glanz, ein besonderes Ansehen verliehen werden, das die Folkies ihrerseits gerne annahmen, weil sie sich einem gewissen Rechtfertigungszwang ausgesetzt fühlten und unbedingt zu einer rechtslastigen Volksliedtradition auf Distanz bleiben wollten.
Wenn man Bloch folgen mag, dann hat Geschichte einen Sinn. Sie führt irgendwo hin. Wenn wir uns die Entwicklung der Weltgeschichte als Wegstrecke vorstellen, dann erkennen wir – oh, Wunder –, dass das Repertoire der historischen Folksongs verschiedene Stationen auf diesem verschlungenen Weg markiert. Die Kämpfer im Bauernkrieg des Jahres 1521 und die Bürger, die während der Achtundvierziger-Revolution auf den Barrikaden standen, haben erstaunlicherweise, auch wenn sie keine Zeitgenossen sind, etwas gemeinsam: Sie alle stehen in einer „kryptischen Tradition“, sie sind verbunden durch das „identisch Gemeinte“, durch die „Invariante der Richtung“, die letztlich in eine Welt frei von Unrecht führt, von der wir gelegentlich einen „utopischen Vorschein“ erhaschen. So ein Geschichtsverständnis ist wie eine Kette: Bloch an Bloch – und hält doch.
Kurz: Wir haben den Folkies versichert, dass sie dazugehören, dass sie getrost bei uns aufspielen können, wir würden als Veranstalter bereitstehen und auf Nachfrage jederzeit theoretisch begründen können, dass ihre Musik eine tiefe Bedeutung hat, dass sie genauso zu den Guten gehören wie die aktuellen, kritischen Liedermacher und dass sie keinesfalls Ewiggestrige oder gar einfältige Dudel-Musiker sind, die nicht wissen, wo sie politisch hingehören.
Manchen kam das aufgesetzt vor. Der Club Voltaire galt sowieso (zumindest bei einigen) als arrogant und intellektuell verstiegen. Da erwartete man keine ergreifenden Lieder, sondern beißenden Spott; dem alten Voltaire wird schließlich der Spruch zugeschrieben: „Was zu dumm ist, um es auszusprechen, das singt man.“ Und nun sollte doch gesungen werden? Manche konnten das nicht zusammenbringen, sie stellten sich vor, dass dann zwei Seelen in einer Brust wohnen müssten, die aber, weil die Menschen heutzutage so schmalbrüstig sind, in so einer Brust nicht genug Platz finden.
Vielleicht hätten wir uns Club Rousseau nennen sollen, womöglich hätte es das Verständnis erleichtert. Rousseau, der vermutlich eine sehr geräumige Brust hatte, brachte die Welten zusammen: kritisches Denken und Sentimentalität, Aufklärung und Singspiel. Mit seinem Hang zu privaten Bekenntnissen und seiner Vorliebe für unkomplizierte Musik kann man ihn womöglich sogar als heimlichen Schutzpatron der späteren Liedermacher ansehen.
Bei der Ausstellung sieht man nichts davon. Da werden die Festivals dargestellt, als hätten die Ausstellungsmacher die Plakate nicht angeguckt, die Programmhefte nicht gelesen und nicht gemerkt, dass die Festivals mehr waren als rauschende Partys. Sie waren umstritten. Sie wurden angefeindet. So manchen gefiel die ganze Richtung nicht; sie hielten das für linke Unterwanderung, sie misstrauten den freundlichen Tönen und fürchteten um den guten Ruf, als könnten die alten Mauern Tübingens über Nacht mit einer unsichtbaren, aber bleibenden roten Farbe beschmiert werden.
Die Ausstellungsmacher dagegen meinen, dass sich bei den ersten drei Festivals der politische Anspruch „in Grenzen“ hielt, und so ignorieren sie die ersten und konzentrieren sich auf die letzten, bei denen sie dann einen Niedergang der politischen Kultur feststellen. Das passt nicht zusammen. Wenn einerseits Folkmusik als gefälliges Musizieren ohne weitere Bedeutung abgetan wird und andererseits die „Mitarbeitenden“ des Club Voltaire als politische Aktivisten darstellt werden, wie darf man sich dann deren Engagement vorstellen?
Etwa so, dass die Veranstalter zunächst eine Musikrichtung, an der sie gar kein echtes Interesse hatten, in den Mittelpunk ihrer Programme gestellt haben, als wären die ersten drei Festivals nur Probeläufe gewesen, um dann bei dem vierten mit dem eigentlichen Anliegen herauszurücken, als hätten sie erst einmal Hunde ins Weltall geschickt, ehe sie einen benannten Raumflug wagten? Nein. So war es nicht. Umgekehrt. Gerade die ersten Festivals verdienen verschärfte Aufmerksamkeit – besonders dann, wenn man sie als Beispiele für eine Protestkultur vorzeigen will.
Die wunderbaren Pfeifkonzerte
Das erste Festival, bei dem es noch enorme Widerstände gab, war allein schon dadurch ein Erfolg, dass es stattgefunden hatte und keine Pleite war. Ganz reibungslos war es auch nicht. Bill Clifton mit seinen Echo Mountain Boys war als Attraktion geplant, wurde aber ausgepfiffen, weil er ungebrochen patriotisch wirkte und langweilte. Er hielt das für ein Pfeifen im amerikanischen Stil und missverstand es als Zugabenwunsch. Tucker Zimmerman, der auch nicht gut ankam, warf verärgert seinen Gitarrenkasten von der Bühne. So wirkte das Publikum auf seine Art von Anfang an bei der Programmgestaltung mit.
Beim zweiten Festival 1976 geschah es dann. Hier müsste jeder, der sich für Protestbewegungen interessiert, aufhorchen und mitschreiben, doch ausgerechnet an dieser Stelle lässt die Ausstellung eine Lücke. Was geschah? Es gab eine spontane, nicht angemeldete Demonstration, die sich von der Bühne im Schlosshof bis in die Uhlandstraße hin zum Schwäbischen Tagblatt bewegte und gegen Repression und Berufsverbote protestierte. Na bitte: Es gab echten Protest. Im richtigen Leben. Die Ausstellung weiß nichts davon.
Der Protest brachte uns in Verlegenheit. Wir hatten die Geister, die wir gerufen hatten, nicht im Griff. Wir mussten deutlicher werden. Ein Bloch-Zitat, so dekorativ es auch in den Mittelpunkt des Plakates gerückt war, reichte offenbar nicht aus. Wir mussten konkrete Themen vorgeben. Sonst würde es das Publikum tun. Wir mussten Redner besorgen, sonst würde jemand aus dem Publikum das Wort ergreifen. Das Publikum ist sowieso ein Lümmel. Es ist unberechenbar. Hinzu kommt, dass die Gelegenheit eine äußerst empfindliche Diva ist. Wenn man mit ihr ein Rendezvous hat, darf man sich nicht verspäten. Der Veranstalter, der Neuland betritt, ähnelt einem Dompteur, der es mit mehreren unbekannten Raubtieren zu tun hat.
Wir hatten Glück. Die Sterne standen günstig. Der Weltgeist lächelte. Es gab zwei oder drei goldene Festival-Jahre – das war’s. Es war wie ein Blitz, der punkt- und zeitgenau niedergeht, wenn die Wolken entsprechend aufgeladen sind. Wir konnten die Wolken natürlich nicht lenken, lebten aber in der Illusion, dass es letztlich doch der einzelne ist, der zumindest ein bisschen an dem Rad der Geschichte drehen kann und nicht bloß mitschwimmt auf einer Welle, die sowieso kommt. Viel konnten wir nicht machen.
Wir hatten aber schon Wegweiser aufgestellt, nun kam es – was immer es auch war – auf Tübingen zugerollt. Die Besucher strömten herbei und erwarteten ein Wunder. Gleichwohl waren sie bereit, sich selbst und die Veranstalter als Einheit zu sehen. Wir waren wie sie. Wir waren alle Jungfrauen. Von Festival zu Festival verdoppelte sich der Besucherstrom. So wurden die Festivals überhaupt erst möglich. Es gab Einnahmen. Zuschüsse waren noch nicht entscheidend. Finanziert wurde das Unternehmen hauptsächlich durch Selbstausbeutung. Natürlich geht das nur eine Zeit lang gut. Der Lohn für die Mitarbeiter entsprach dem olympischen Gedanken: Dabeisein war alles.
Es war ein alter Traum der Veteranen der Burg Waldeck, den legendären Pete Seeger – die Verkörperung des Liedermachers und Folksängers in einer Person – in die Büsche zu locken. Eckard Holler war so ein Träumer, doch er gehörte gleichzeitig zu den Spielverderbern, die lieber diskutieren und die Gitarren in die Ecke stellen wollten. Er wollte unbedingt mit dem politischen Feuer der Gegenwart spielen und kehrte immer wieder gerne zum Lagerfeuer seiner jugendbewegten Vergangenheit zurück. So einer war er. Darauf kam es an. Das sind die entscheidenden, subjektiven Faktoren, die letztlich die Dinge in Bewegung, die Verhältnisse zum Tanzen bringen.
Die Festivals wurden durch die Verstrickungen, Vorlieben und Irrtümern von einzelnen möglich. Durch Freimut und Feuer. Die Veranstalter waren genau solche Einzelkämpfer, wie es die Liedermacher waren, die auf ihrem Eigensinn beharrten und sich zugleich danach sehnten, irgendwo dazuzugehören.
Kleine Anekdoten aus der Geschichte der Festivals enthalten mehr Wahrheit als die klapperige Begrifflichkeit aus der Broschüre. Wir wollten Pete Seeger nach Tübingen holen. Also brachen Eckard, Gretel, (der damals nicht einmal einjährige) Lasse Holler und ich nach Italien auf, um ihn da zu treffen. Pete Seeger hatte jedoch in seinem Brief an uns Turin mit Mailand verwechselt. So stießen wir auf die dortige Musikszene, von der wir zunächst auch nicht wussten, was wir davon halten sollten.
Wir konnten nicht ahnen, dass die Italiener schon bald zu einem besonderen Kennzeichen der Festivals wurden – mit Stormy Six/Macchina Maccheronica, Quarto Stato und dem Ensemble Havadia, das sich zunächst Gruppo Folk Internationale nannte. Damit führte zwar die ganze Bagage um Moni Ovadia noch das Zauberwort „Folk“ im Namen, doch letztlich führte gerade die Invasion der Italiener dazu, dass die Folkmusik zu einer Randerscheinung wurde. Es kam also, wie Wilhelm Busch sagen würde, erstens anders und zweitens als gedacht.
In seinem neuen Programm verwendete Moni Ovadia Zitate aus der deutschen Nationalhymne. Er wurde sofort ausgepfiffen. Er war nicht sicher, ob die Pfiffe reflexhaft der Hymne galten oder seinen neuen Mini-Opern, die er gerade ausprobierte und die nicht leicht zu verstehen waren. Er konnte damit umgehen. Als Künstler musste er sowieso mit Widersprüchen und Überraschungen leben.
So ist die Kunst. So ist das Leben. So hat auch Umberto Fiori in dem Lied vom Pfeifkonzert besungen: „Quando meno te lo aspetti/ è scoppiata la realtà,/ è l’orchestra dei fischietti che dà la sveglia alla città“. Das hat jeder spontan verstanden. Es hat auch jeder sofort gemerkt, dass hier die Grundlegung der Dialektik Hegels zeitgemäß zum Klingen gebracht und mit Dynamik versehen wurde, „Niente resta uguale a se stesso,/ la contraddizione muove tutto.“ *
An der Mauer beim Hölderlinturm stand damals der Spruch: „Der Tag ist 24 Stunden lang, aber verschieden breit.“ Eben. Manchmal gibt es extrabreite Momente. Bei dem Festival des Jahres 1977 tanzten Hölderlin, Hegel und Schelling um einen Freiheitsbaum und sangen revolutionäre Lieder wie die Carmagnole. Moment … ich muss mich berichtigen, es war nicht etwa – kleiner Zahlendreher – im Jahre 1977, sondern 1799, genau gesagt 1791. Das Festival des Jahres 1977 wollte an diesen Augenblick erinnern, und – wer weiß? – vielleicht hatte Hölderlin bei der Gelegenheit seinem Tanzpartner Hegel die Idee von der Einheit der Gegensätze, die auf Heraklit zurückgeht – und die auch das Festivalprogramm kennzeichnet –, nahegebracht.
Von all dem erzählt die Ausstellung nicht. Sie erzählt aber, dass gestrickt und besetzt und blockiert wurde. In Tübingen. In den 70er oder 80er Jahren. Es passt ja auch, so mag man zunächst einmal denken (wenn man nicht lange weiterdenkt), gut zu den Liedermachern mit ihren selbstgestrickten Liedern und ihren temperaturempfindlichen Gitarren, die sie ständig nachstimmen mussten. Es hat irgendwie mit Alltagskultur zu tun. Irgendwie irgendwo irgendwas hat es auch mit Protest zu tun. Das kann man gut zusammenfassen.
Protest im Zeichen der Gleichstellung
Pustekuchen! Es passt nur, wenn man alles vorher in die große Waschmaschine der Gleichstellung gesteckt hat, die nicht nur alles einfärbt, sondern auch alle Wäschestücke auf ein und dieselbe Größe zusammenschrumpfen lässt. So macht es die Ausstellung: Wenn es um die Festivals geht, wird das Protest-Element klein geredet, wenn es ums Stricken geht, wird es aufgemotzt. Nun hängt alles nebeneinander auf einer Leine, als wäre es alles gleichermaßen bedeutend, alles gleich gültig, alles gleichgütig. Schon die zwanghafte Gleichstellungs-Prosa, in der das Begleitheft verfasst ist, mit den verkrampften „Besucher_innen“ mit Unterstrich, den „Studierenden“ und den „Mitarbeitenden“ (die eigentlich „mitgearbeitet Habende“ heißen müssten, denn nun ist es Vergangenheit) ist bezeichnend. So werden nicht nur die Zeiten platt gebügelt, auch die Wertigkeiten werden eingeebnet.
Zum Stricken selber kann ich nichts sagen. Ich wurde, als ich noch zur Schule ging, massiv diskriminiert. Immer wenn die Handarbeitslehrerin kam, wurde ich ausgesperrt. Mir wurde allein aufgrund meines Geschlechts der Zugang zur Bildung (zumindest der Zugang zur Bildung von selbstgestrickten Schals und Pullovern) verweigert. Auch wenn ich wütend mit dem Fuß aufgestampft und bitterlich geweint habe: Ich durfte nicht stricken und nicht häkeln. Dabei ist es geblieben. Die Strickenden mussten also ohne mich ihren Triumphzug antreten, als sie seinerzeit mit den Grünen in den Bundestag einzogen und demonstrativ ihre Nadeln in die weiche Wolle rammten. Zu dem Thema hatte ich bereits vor Jahren ein Gedicht und einen Text auf der Achse geschrieben. Nun gibt es dazu obendrein einen Clip:
Es wurde also nicht nur gesungen im Ländle: Gestrickt, besetzt und blockiert wurde in Tübingen auch – mit der Betonung auf dem verräterischen Wörtchen „auch“. Das kenne ich noch: In der DDR gab es auch Cola, sie hieß Club-Cola, es gab auch Jeans, die so genannten Jeanshosen, es gab auch Beatmusik (die Sputniks, die Dampferband und das Diana Show Quartett), es gab auch Autos, man nannte sie korrekterweise Trabbis. In Tübingen gab es auch Protest – den „auch-Protest“.
Man höre und staune: In Tübingen wurde auch ein Haus besetzt so wie in Westberlin oder an anderen Orten, an denen richtig was los war. Wer hätte das gedacht? Nun wissen wir es. Das Stadtmuseum zeigt es. Der großzügige und zugleich schlampige Ansatz der Ausstellung, bei der zwei Jahrzehnte über einen großen Kamm mit dicken Zacken geschoren wurden, legt einen gnädigen Schleier über die Peinlichkeit dieser unzeitgemäßen und unbedarften Protestaktionen aus der Provinz.
Es gab in Tübingen sogar eine Frauenbewegung. Auch das noch. Da wurde heftig gegen das Sammeltaxi, mit dem die ängstlichen Frauen nicht einverstanden waren, protestiert. Dazu gab es auch ein Transparent. Mit einem echten, selbstgemachten Spruch; denn reimen konnten die Frauen in den siebziger Jahren auch: „Sammeltaxi, das ist fein -/ der Vergewaltiger steigt mit ein.“
Was ist peinlich? Peinlich ist das Unpassende, das nicht zur rechten Zeit am rechten Ort ist. Dabei kann die Verzögerung als Gradmesser dienen: Wenn ich im Januar „Oh-du-fröhliche“-singend mit einem Weihnachtsmannkostüm durch die Stadt laufe, ist das peinlich, wenn ich es im Februar tue, ist es noch peinlicher. Wenn ich es im Mai tue, wird es langsam komisch.
Und nun? Nun stehen die Besucherinnen und Besucher staunend vor einer Matratze, auf der in den siebziger oder achtziger Jahren angeblich ein echter Hausbesetzer geschlafen hat, sie stehen vor einer historischen Waschmaschine, in der angeblich eine Latzhose eingefärbt wurde, um die Alltagskultur zu revolutionieren und sehen tatsächlich – sie trauen ihren Augen kaum – einen echten, selbstgestrickten Pullover. So soll Protest sinnlich erfahrbar gemacht werden. Mir blieb das Lachen im Hals stecken.
Als in Tübingen irgendwann etwas gestrickt, etwas blockiert und sogar ein Häusle besetzt wurde, wurde damit lediglich etwas nachgemacht, was andere Aktivisten an prominenten Orten spektakulär vorgemacht hatten. Bei den Festivals war es umgekehrt: Für Folkies und Liedermacher war Tübingen eine Zeit lang der prominente Ort, zu dem sie anreisten. Die Stricker, Blockierer und Besetzer dokumentieren eindrucksvoll, dass Tübingen ein beschauliches Provinznest ist. Die Festivals dagegen haben einen Wimpernschlag lang Tübingen zu einem Weltdorf gemacht. Die Stricker, Blockierer und Besetzer haben etwas nachgespielt. Die Folkies und Liedermacher haben etwas vorgespielt.
Ich kann übrigens auch Zweizeiler stricken. So wie die protestierende Frauen in Tübingen. Nicht ganz so fein, aber mein. Noch so richtig selber gemacht – echt jetzt. Es reimt sich auch. Mein Zweizeiler als Kommentar zur Interventionsausstellung – und zugleich als Protest dagegen – geht so:
„Kommt ein Protest zur falschen Zeit,
besteht er nur aus Peinlichkeit“.
* Um solche Musik ging es. Die lag bei den frühen Festivals in der Luft. Der Text wurde natürlich übersetzt: „Gerade wenn du es am wenigsten erwartest,/ geht die Wirklichkeit los:/ es ist das Pfeifkonzert,/ das die ganze Stadt aus dem Schlaf rüttelt.// Es weckt mit seinen Trommeln,/ niemand soll noch länger schlafen,/ es schreibt rot auf die Mauern,/ es teilt die Welt entzwei.// Das ist kein Chor von Erzengeln/ auf dem Fließband:/ es hüpft und pfeift/ mit der Kraft der Träume,/ mit der Einfachheit der Bedürfnisse.// Nichts bleibt sich gleich:/ der Widerspruch bewegt alles.“
Nora war noch in dem Alter – sie war acht oder neun -, in dem sie auf dem Kindersitz im Auto hinten sitzen musste. Ich hatte aus Versehen den falschen Sender eingestellt, und nach dem Verkehrshinweis lief von Freddy ‚Die Gitarre und das Meer’. Als sie danach meinte „Das war aber mal ein schönes Lied“, fiel mir auf, dass sie womöglich gerade zum ersten Mal bewusst der Musik aus dem Radio zugehört hatte. Normalerweise war das alles in Englisch, ein bedeutungsloses Grundrauschen zum Motorengeräusch, das an ihr vorbeizog wie die langweile Aussicht aus dem Rückfenster.