Haydn gefällt mir: 3 Fragen

 

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Feuilletonscout: Welche künstlerischen Ziele möchten Sie mit dem Projekt erreichen? Und welche persönlichen?

Bernhard Lassahn: Die Musiker bemühen sich um eine so genannte historisch informierte Interpretation. Der Text tut es auch. Also habe ich Tatorte aufgesucht und versucht, in die Zeit zurückzureisen. Ich bin inzwischen in einem Alter, in dem ich das richtig gerne tue. Dabei konnte ich natürlich die modernen Kontaktlinsen, die ein jeder heutzutage hat, nicht problemlos herausnehmen. Ich habe trotzdem versucht, unbefangen zu bleiben und als „glücklicher Dilettant“ mit einer zweiten Unschuld an die Aufgabe heranzugehen*.

 

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Feuilletonscout: Wie nähern Sie sich textlich-literarisch dem Komponisten Haydn?

Bernhard Lassahn: In Briefform. So hat sich auch die so genannte Gelehrtenrepublik, die „republic of letters“ verständigt, der Haydn als Kind seiner Zeit und als Intellektueller der besonderen Art angehörte. Die direkte Ansprache in einem Brief passt auch gut zur Musik, die uns ebenfalls unmittelbar anspricht und berührt – als wären wir persönlich gemeint.

Im ersten Text tue ich so, als würde ich meiner Tochter schreiben, die gerade in dem Alter ist, in dem Haydn war, als er seine ersten Sinfonien komponierte, und als erklärte ich ihr, welche Rolle die Leidenschaft in der Kunst und im Leben spielt und auch – es war schließlich Band 1 der Edition –, wie der erste Eindruck war, den Haydns Musik damals gemacht hat.

Im zweiten Text, in dem es um Originalität geht, tue ich so, als schriebe ich meinem Vater – einem Professor mit besonderem Faible für die Epoche der Aufklärung, in der die „auf sich selbst gestellten Persönlichkeiten“, wie Haydn einer war, auftraten. Mit ihm erörtere ich die Frage, inwieweit man seine Sinfonien als Versuch sehen kann, die „unsichtbare, innere Natur des Menschen“ mit eigenen wissenschaftlich-künstlerischen Mitteln zu vermessen, so dass man seine Sinfonien durchaus mit philosophischen Texten vergleichen kann, die ebenfalls versuchten, die Welt in ihrer Vielfältigkeit abzubilden.

 

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Feuilletonscout: Was lieben Sie persönlich an Haydn?

Bernhard Lassahn: Ich bin zum Glück im richtigen Alter mit den Beatles aufgewachsen, so dass ich da noch die Lust am Neuen spüren konnte sowie die grundsätzlich positive Lebenseinstellung, die ein lautes „Ja“ verkündet. So kommt man auf den Geschmack – und wenn man schließlich eine Art von Kunst besonders mag, bei der die Arme weit geöffnet sind, um möglichst viele Menschen zu umarmen, bei der ein Künstler aber gleichwohl auf seinen Besonderheiten und seinen Qualitätsansprüchen besteht, dann sucht man sich eben so seine Lieblinge aus. Dazu gehört Haydn.

Ein Musikfreund aus dem Jahre 1800 beschreibt sein Vergnügen an Haydn so, wie ich es selber nicht besser tun könnte: „Ich kann Ihnen nicht genug sagen, welch eine reine Behaglichkeit und welch ein Wohlsein aus Haydns Werken zu mir übergeht … Die heitere, schalkhafte, gutmütige, geistreiche Laune, verbunden mit der übermütigen Phantasie, mit der Kraft und Gelehrsamkeit und Fülle – kurz dies Schwelgen in einem Frühling von Tönen und schönen Modulationen, kann das Leben angenehm machen.“

 

* Einen Text zu schreiben … nun ja, das ist schon eine einsame Angelegenheit. Es geht aber auch in diesem Fall nicht ohne ein gewisses gemeinsames Musizieren und so danke ich für das Zusammenspiel Martin Betz, Stefan Till Schneider, Nicole Restle, Rudolf Lassahn, Christian Moritz-Bauer und Giovanni Antonini.

Haydn als Philosoph

 

„Sehr verehrter Herr Professor, lieber Freund!

 

Gerne denke ich an unsere Gespräche über das angenehme, wenn auch „moralisch bedenkliches Vergnügen“ an der Musik zurück. Besonders froh bin ich über Ihre Bemerkung, dass eine Sinfonie von Haydn zugleich eine „große Philosophie“ ist. Das klingt zunächst nach einem großen Wort, das jeder sagen kann, der sich nicht scheut, auf die Pauke zu schlagen. Haydn wurde auch „der Shakespeare der Musik“ genannt.

 

Bei Ihnen ist es nicht nur so dahingesagt. Sie haben es ausführlich und tief schürfend erklärt. Ich danke Ihnen also nicht bloß für die Spitze des Eisberges, sondern für den gesamten Eisberg, für Ihre zitatreichen Ausführungen, mit denen Sie die Originalität von Haydn begründet haben. Auch wenn ich einräumen musste, dass der Titel Der Philosoph nicht von Haydn selber stammt, sondern später dazugegeben wurde, so passt er doch in diesem Fall hervorragend. Denn ein rechter Philosoph hat immer eine eigene Meinung – im Unterschied zu den Theologen, die alle dasselbe erzählen. Ein Philosoph ist „original“.

 

Das berühmte Zitat von Haydn, das ich mitgebracht hatte – „Niemand konnte mich an mir selbst irre machen und quälen, und so mußte ich original werden“ – hat Sie sofort aufhorchen lassen; klingt hier doch die Frage an, ob es die Umstände sind, die den Menschen machen oder ob es der Mensch ist, der die Umstände gestaltet. Als wir noch beim ersten Glas Wein waren, haben wir überlegt, woher denn Originalität eigentlich kommt, ob Haydn erst original „werden musste“, oder ob er es schon von Anfang an war.

 

Als Grund für die besondere Originalität von Haydn wird häufig angeführt, dass Haydn in Eisenstadt – und mehr noch in Esterházy – isoliert war. Er reiste nicht einmal nach Italien, weil seine Dienstpflichten es nicht erlaubten. Ich glaube inzwischen, dass die Einsamkeit von Eisenstadt und Esterházy, unter der so manche Biographen Haydn leiden lassen, längst nicht so drückend gewesen war, wie man sich das rückblickend vorstellen mag. Im Gegenteil. Fürst Nikolaus sorgte persönlich für ein ungewöhnlich reiches Angebot, er engagierte, oft für Monate, ganze Schauspieltruppen, die sich täglich bereithalten mussten, ihn mit einem Schauspiel zu bedienen: Auf dem Programm standen Hamlet, König Lear, Götz von Berlichingen, Emilia Galotti, Minna von Barnhelm, Fiesco, Kabale und Liebe, Maria Stuart und viele andere Stücke. Zumindest in Sachen Shakespeare war unser „Shakespeare der Musik“ gut versorgt.

 

Obwohl Haydn nur wenig gereist ist, verbreiteten sich seine musikalischen Ideen schnell durch ganz Europa. Seine Quartett-Divertimenti erschienen in Amsterdam und London, was als Beginn der internationalen Karriere Haydns gesehen wird. Haydn versauerte also keineswegs in der Provinz, wie man aus heutiger Sicht denken mag, wenn man das beschauliche Städtchen Eisenstadt besucht.

 

Man kann auch nicht sagen, dass der Fürst Nikolaus in seinen Kunstabsichten engstirnig oder gar einseitig war: alle Stilarten waren ihm willkommen. Man nannte ihn den „Prächtigen“ und es wird ihm bereitwillig bescheinigt, dass er mit einem „seltenem Kunstwillen begabt“ war, und dadurch seine Lebenshaltung vor der „Gefahr kitschigen Protzentums“ bewahrte.

 

Der reisende Baron Riesbeck schreibt über den Fürsten Nikolaus und seinem „Feenreich“, wie es Goethe nannte:

 

„Er hält sich ein Marionettentheater, welches gewiß einzig in seiner Art ist. Auf demselben werden von den Puppen die größten Opern aufgeführt …Oft nimmt er eine Truppe fahrender Schauspieler auf einige Monate in Sold, und nebst einigen Bedienten macht er das ganze Auditorium derselben aus. Sie haben die Erlaubniß, ungekämmt, besoffen, unstudiert und in halber Kleidung aufzutreten. Der Fürst ist nicht für das Tragische und Ernsthafte, und er hat es gerne, wenn die Schauspieler, wie Sanchopansa, ihren Witz etwas dick fallen lassen.“

 

Es war also ordentlich was los. Wenn man Haydn den „Shakespeare der Musik“ genannt hat, sollte damit zunächst einmal seine Bedeutung hervorgehoben werden. Gleichzeitig sollte aber auch gesagt sein, dass er so wie Shakespeare, der selbst in seine Tragödien kleine burleske Einlagen eingebaut hat, stets ein Nebeneinander von Ernst und Heiterkeit angestrebt hat.

 

Das traf den Nerv der Zeit. Denn neuerdings galt es, die Kompliziertheit der Welt zu begreifen und darzustellen. Entstanden war dieser Anspruch aus dem Zweifel an den theologischen Dogmen. Damit wurde alles andere ebenfalls in Zweifel gestellt. Alle zweifelten, zweifelten und zweifelten – und widerlegten sich gegenseitig. Die Wissenschaft erhob den Zweifel sogar zur Maxime. Descartes erklärte in seinem Discours de la méthode, dass er an allem zweifelte, nur nicht am Zweifel.

 

Unter diesen Vorzeichen musste auch die Musik – wie entsprechend auch die Malerei – verschiedene Perspektiven darstellen. Dazu gehörten gegensätzliche Gefühle, Lust und Unlust, Freude und Ärger. Aus dieser Disposition heraus entstand die Sinfonie. Dass sie sich als Form von einem Vorspiel zur Oper mehr und mehr zu einem eigenständigen Instrumentalstück entwickelte, beschreibt ihre Entstehung eben nur in formaler Hinsicht. Es wurde an diese neue Kunstform obendrein die Erwartung herangetragen, die Vielseitigkeit der menschlichen Gefühle abzubilden. So wie eben auch in den Dramen von Shakespeare.

 

Doch Sie haben Recht: Haydn können wir uns besser als den „Yorick der Musik“ vorstellen. Auch von Mozart wird gesagt, dass er „der Shakespeare der Musik“ ist. Von Beethoven wird es ebenfalls gesagt. Na, gut: Dann haben wir eben ein musikalisches Shakespeare-Trio. Doch die Besonderheit von Haydn wird mit einem Hinweis auf Yorick noch besser und noch genauer erklärt. Seine Eigenart wurde mehrfach mit den Launen von Yorick verglichen. Gemeint ist nicht etwa der als Totenkopf bekannte Yorick aus Hamlet – „Alas, poor Yorick! I knew him!“ –, sondern der Held aus A Sentimental Journey Through France and Italy von Lawrence Sterne, einem damals weit verbreiteten Standardwerk des gebrochenen Humors. Darin finden wir genau den besonderen Charme, der auch Haydn auszeichnet; da blitzt stets die Bereitschaft auf, beiseite zu treten und die Sache mit lächelnder Distanz zu betrachten. Haydn war gewiss kein Spielverderber, man kann ihn aber wohl als Ernstverderber bezeichnen.

 

Ich hatte ein Zitat mitgebracht aus dem Jahre 1800; ein Leser der Allgemeinen musikalischen Zeitung veröffentliche einen „Brief an einen Freund“. Es war nun mal die Zeit der langen Briefe an Freunde, die Zeit der innigen Freundschaften – Jean Paul, der ebenfalls gut in die wunderbare Gesellschaft der stillen Humoristen passt, nennt das Buch daher auch einen „langen Brief an Freunde“ – unser Leser schrieb in einer kurzen Mitteilung:

 

„Ich kann Ihnen nicht genug sagen, welch eine reine Behaglichkeit und welch ein Wohlseyn aus Haydn’s Werken zu mir übergeht. Es ist mir ungefehr so dabey zu Muthe, als wenn ich in Yoricks Schriften lese, wonach ich allemal einen besonderen Willen habe etwas Gutes zu tun. Die heitere, schalkhafte, gutmüthige, geistreiche Laune, verbunden mit der übermüthigen Phantasie, mit der Kraft und Gelehrsamkeit und Fülle – kurz dies Schwelgen in einem Frühling von Tönen und schönen Modulationen, kann das Leben angenehm machen.“

 

Wo er auch lebte, Haydn gehört in die große Gemeinschaft von originalen Genies ihrer Zeit, er gehörte zu den „auf sich selbst gestellten Persönlichkeiten“, wie sie Jacob Burckhardt in den Weltgeschichtlichen Betrachtungen beschreibt. Ihr Charakteristikum liegt in Initiative, Unternehmenslust, Freude am schöpferischen Risiko. Die Entdecker ferner Länder, die Erstbesteiger hoher Berge, Maler, Bildhauer, Baumeister, Dichter, Astronomen, Physiker, Kaufleute und Ingenieure. Sie alle waren Originale. So wie Haydn. Die seltenen Tonarten, die Haydn seinen Hörern zumutete, kann man gut mit der Entdeckung einer Insel oder der Erstbesteigung eines Berges vergleichen.

 

Natürlich wurde Haydn gefragt, ob er eine spezielle Methode hatte. Man wollte wissen, ob man dem Schöpfungsgeheimnis auf die Spur kommen könnte. Auf die Frage, ob ihm die Regeln, um etwas hervorzubringen, bewusst seien, hat er geantwortet:

 

„Daran habe ich im Feuer der Komposition nie gedacht; ich schrieb, was mich gut dünkte und berichtigte es nachher nach den Gesetzen der Harmonie. Andere Kunstgriffe habe ich nie gebraucht. Ein paarmal nahm ich mir die Freiheit, zwar nicht das Ohr, aber doch die gewöhnlichen Regeln der Lehrbücher zu beleidigen, und unterschrieb die Stellen mit den Worten: con licenza.“

 

Haydn erteilte also Lizenzen; sein „con licenza“ war eine Vollmacht, wie sie 007 hatte, es war die „Lizenz zum Flöten“, wie wir es zur fortgeschrittener Stunde nannten. Eine ungewöhnliche musikalische Wendung durfte so sein, weil Haydn sie persönlich genehmigt hatte, auch wenn sie gegen die Regeln verstieß. Ein Satz, der mit „Das darf jetzt …“ anfängt, ist ja nicht immer willkommen, mich erinnert das an die durchaus beunruhigenden Worte eines Zahnarztes, wenn er sagt: „Das darf jetzt etwas weh tun“. Aber tat es weh? Haydn unterzog seine Neuerungen stets einem Schmerztest.

 

Er berichtet selber: „Man schrie laut: ‚ein Fehler!’ und wollte es aus dem Fux beweisen.“ Damit musste man ihm nicht kommen. Er kannte den Fux. Es war das damals allgemein anerkannte Standardwerk Gradus ad Parnassum, eine maßgebliche Anführung zur Regelmäßigen Musikalischen Komposition. Auf neue, gewisse, und bishero noch niemahls in so deutlicher Ordnung an das Licht gebrachte Art ausgearbeitet von Johann Joseph Fux. Schon der Titel klingt umständlich, streng und sehr, sehr ordentlich. Das musste auch sein. Musik wurde schließlich als Wissenschaft verstanden. Da ging es mit rechten Dingen zu.

 

Doch gleichzeitig galt, was Horaz über die Dichtkunst gesagt hat: „Wo unentdeckte Dinge zu sagen sind, da ist’s mit Recht erlaubt, auch unerhörte Wörter zu erfinden“. Das tat übrigens auch der Übersetzer von Sentimental Journey, der sich erst nach einigen Zweifeln zu der inzwischen berühmt gewordenen Neuschöpfung durchringen konnte. Das Wort „empfindsam“ kam erst durch eine Lizenz, die sich der Übersetzer selbst ausgestellt hatte, in die Welt.

 

„Original“ dagegen war eine Vokabel, die weit verbreitet war und die man auffällig oft in Briefen der Zeitgenossen findet. Nicht nur in Deutschland, auch in Frankreich und England. Die Hinwendung zum Original erkannte man schon daran, dass die Autoren dazu übergingen, in der Muttersprache zu schreiben und sie damit zur Originalsprache machten. Zwar schrieben einige von ihnen noch in zwei Sprachen, doch sie wandten sich bewusst ihrer Muttersprache zu. Latein, das man im Gegensatz zur Muttersprache auch als „Vatersprache“ bezeichnete, weil es für die Welt außerhalb des Hauses der passende Umgangston war, versiegte unter diesen Umständen und verlor allmählich seine Rolle als lingua franca. Sowieso waren damals etwa siebzig Prozent der Bevölkerung Analphabeten.

 

Eine umso größere Rolle spielten die Salons, die sich nun bildeten, da wurde in der Muttersprache geredet. Zwar spricht man, wenn man die Gelehrtenrepublik meint, von einer „republic of letters“, doch es blühte nicht nur ein Kult um das Briefeschreiben, auch die gesprochene Sprache fand neue Resonanzräume.

 

So wie die Musik, wie Mozart sagt, nicht etwa in den Noten steht, sondern in den Zwischenräumen, so fanden die bedeutenden Ereignisse während einer Saison in Wien oder bei Opernaufführungen nicht nur auf der Bühne statt, sondern in den Pausen, wo die Börse für Neuigkeiten aus der großen und kleinen Welt stets mit starken Informationsgewinnen eröffnete.

 

Der Begriff „Originalität“, der für die Rolle des Künstlers so große Bedeutung hat, ist, wie sie ausgeführt haben, eigentlich lateinischen Ursprungs und taucht zuerst in der mittelalterlichen Theologie auf. Er bezeichnet, was mich zunächst überrascht hat, die Erbsünde – peccatum originale – und bedeutet einen von „Anfang an, ursprünglich im Menschen vorhandenen Hang zum Bösen“.

 

Doch auch der schöpferische Akt enthält Originalität. Wenn der Mensch Kunst schaffen will, reicht eine reine Nachbildung nach der Natur nicht mehr, er muss auch die Freiheit haben, sein eigenes Werk zu schaffen. Wenn nun aber die schöpferische Kraft auf den Menschen übergeht, dann erfüllt sich, was die Schlange einst versprochen hatte, als sie verführerisch zischte: „Ihr werdet sein wie Gott“. So gesehen sind Adam und Eva nicht bloß Repräsentanten des Sündenfalles, sondern auch des guten Schöpfungswillens Gottes.

 

Damit kamen wir zu Ihrem Lieblingsthema, zu Faust. Mephisto, wie wir ihn in der Studierzimmer-Szene kennenlernen, tritt als der berühmte „Geist, der stets verneint“ in Erscheinung. Er ist der Teufel aus dem Reich der Finsternis, das noch vor der Schöpfung lag, er ist ein „Teil jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“. Das geschieht zwangsläufig. Denn erst wenn das Böse in die Welt tritt, gibt es auch das Gute. Weil sonst das Gute in seiner reinen Gestalt ohne jeglichen Restbestand von Bösem nur als Ideal existierte, als reine Abstraktion – also gar nicht. Hegel sagte bekanntlich: Das Allgemeine existiert nicht als das Allgemeine. Bei einer Schöpfung muss zunächst etwas Neues – womöglich etwas Böses – in die Welt treten.

 

Ich stelle mir eine Schöpfung gerne als Stürmerfoul vor. Ich habe gleich an Maradona gedacht, an die Hand Gottes, die ihm bei der Fußball-WM 1986 zum Sieg verhalf. So vollzieht sich auch der Schöpfungsakt – falls man ein Tor auch als Schöpfung anerkennt: Er kommt mit göttlicher Hilfe und mit einer Regelverletzung zustande. Albert Einstein hat sogar den Fortschritt der Wissenschaft mit einem Kriminalfall vergleichen. Zunächst, so sagte er, begingen die Wissenschaftler ein Verbrechen, um sich dann sorgfältig an die Aufklärung eben dieses Verbrechens machen. Ganz ohne Teufels Beitrag geht es offenbar nicht. Deshalb sprachen Sie auch von dem „moralisch bedenklichen Vergnügen“ an der Musik, das mit Wein und Schlaf verglichen wurde. Es ist tatsächlich bedenklich. Originalität ist böse. Sie ist auch gut. Sie kann sich jedenfalls zum Guten wenden. Es kann aber auch schief gehen. Originalität macht den Menschen zum Schöpfer, macht ihn aber auch zum Außenseiter und lässt ihn leicht scheitern.

 

Die Vorstellung vom Schöpfergeist Gottes enthält noch ein weiteres Postulat: Gott hat nicht sinnlos geschaffen. Sein Schöpferwerk umfasst Ordnung, Gesetz und Harmonie, „prästabilierte Harmonie“, wie es bei Leibniz heißt. Nun gibt es eine Wissenschaft, die diese Prinzipien wie keine andere zum Ausdruck bringt – die Mathematik. Durch Keplers Gesamtwerk zieht sich der feste Glaube, dass Gott Mathematik ist: liber naturae scritta in lingua mathematica – das Buch der Natur ist in der Sprache der Mathematik geschrieben. Die Denker, Forscher und Musiker sind entsprechend bemüht, auch die Musik auf einen wissenschaftlichen Status zu bringen.

 

So wird auf diesem Boden die Musik als mathematische Wissenschaft einer vernünftigen Seinsordnung begründet. Nach diesem neuen Verständnis ist die Musik Ausdruck der „unsichtbaren inneren Natur des Menschen“, seines Gemütes und seiner Leidenschaften. Mit dem Terminus „innere Natur“ wird selbstverständlich verbunden, dass diese innere Natur ebenfalls mathematischen Gesetzen folgt. Wie die äußere Natur. In beiden Naturen spielt natürlich die Schönheit eine große Rolle.

 

Mehr noch: Mit der Vorstellung von einer Originalität rückt die Subjektivität in den Mittelpunkt. Das schöpferische Individuum, das Genie – das Original – gibt sowohl der äußeren als auch der inneren Natur des Menschen Ausdruck. Das große musikalische Kunstwerk ist daher immer die Hervorbringung eines Genies durch Freiheit, wie es Kant gesagt hat, durch die Freiheit, sich selbst Lizenzen zu erteilen.

 

Sehr geehrter Herr Professor! Ich hoffe, ich habe Ihre Ausführungen richtig zusammengefasst. Nicht zu knapp. Nicht zu einfach. Ich bin froh, dass wir uns nicht nur schreiben, sondern auch leibhaftig treffen können. Können Sie mir bitte noch das Zitat schicken, in dem von dem „moralisch bedenklichen Vergnügen“, dem Wein und dem Schlaf die Rede war?

Ihr …“

 

 

„Lieber Studiosus!

Haben Sie gleichfalls vielen Dank … Katharsis war das zentrale Thema der griechischen Philosophie, Musik und Poetik, die Voraussetzung für sittliche Bildung. Seelische Reinigung der Emotionen als Wirkung des Dramas zieht sich durch die gesamte griechische Poetik. Musik und Poetik können aber auch eine ganz zweckfreie Tätigkeit in der Muße sein, ein – wie es heißt – „Luxus, angenehm wie Wein und Schlaf, moralisch sogar ein bedenkliches Vergnügen.“

 

Das genannte Zitat stammt von Philodemos von Gadara, einem Philosophen aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert, er lebte in Catanien, als Philosoph und Poet, zugleich setzte er die Gedanken von Platon und Aristoteles fort und verband sie mit den lebensfreudigen von Zeon und Epikur zu einer Poetik und Musikkritik. In der Musikkritik beschäftigte ihn besonders die ästhetische Wirkung. Es ging ihm dabei um die epikureischen Lustempfindungen, deshalb sein Bezug zu Wein und Schlaf. Das Zitat steht in seinem Werk De musica librorum quae extant.

 

Herzliche Grüße

Ihr Professor, Freund und Philosoph für den Hausgebrauch.“

 

Mein liebes Kind Kind

 

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Joseph Haydn feiert seinen dreihundertsten Geburtstag. Moment. Noch nicht. Erst im Jahre 2032. Bis dahin sollen in dem weitherzig angelegten Projekt „Haydn 2032“ alle seine Sinfonien auf historischen Instrumenten neu eingespielt werden. Haydn soll aufleben. Die Edition soll nicht etwa nach Zahlen (1 bis 107 – so viele Sinfonien sind es), sondern nach Themenschwerpunkten geordnet und in einen erweiterten Kontext gestellt werden, in dem einerseits Musikstücke von Haydns Zeitgenossen und andererseits Arbeiten aus Fotografie und Literatur von lebenden Künstlern hinzugefügt werden. Sammler können jetzt schon anfangen und sich für eine CD mit umfangreichem booklet oder gleich für die Luxusausgabe entscheiden. Zwei Bände gibt es schon. Hier ist der (gekürzte) Text zum ersten Band:

 

„Mein liebes Kind Kind!

Gerade komme ich mit einer Überdosis Klassik im Ohr zurück aus Wien. Was soll ich dir sagen? Die Türken haben Wien erobert und letztlich doch gewonnen. Zumindest haben sie meine Aufmerksamkeit gewonnen. Als ich – ständig mit Hintergrundmusik berieselt – im Haus der Musik endlich bis zur Kasse am Souvenirshop vorgedrungen war, habe ich plötzlich aufgehorcht: Was war das?

 

Es war türkische Popmusik. Da habe ich – wenn auch nur kurz – die Ohren gespitzt, weil es ungewöhnliche Klänge waren; sie waren mir fremd, aber sie gefielen mir irgendwie. Ich musste kurz stehen bleiben und lauschen: Es war Musik, die ich zum ersten Mal hörte.

 

So – oder zumindest so ähnlich – stelle ich mir den Effekt vor, den Haydns Musik damals hatte. Das will ich Dir gerne erklären und Deine Frage beantworten, was Haydn für ein Typ war – und was an seinen Kompositionen dran war, das die Leute mochten.

 

Haydn war etwa so alt wie Du bist, als er Sinfonien schrieb, seine erste stammt vermutlich aus dem Jahre 1757. Haydn wäre demnach 25 Jahre alt gewesen, er war kein Kinderstar. Die Kunstform der Sinfonie war auch noch jung, du darfst Dir darunter nicht so etwas vorstellen wie eine Sinfonie von Beethoven, bei der gleich eine ganze Weltanschauung zum Ausdruck kommen soll.

 

Der Fürst Paul Anton Esterházy war vermutlich einer der reichsten Männer seiner Zeit. Er hörte sich im Jahre 1760 ein Musikprogramm an, zu dem der weniger reiche böhmische Graf von Morzin eingeladen hatte. Die Musik gefiel dem reichen Fürsten dermaßen gut, dass er sofort nachfragte, ob er den Komponisten abwerben könnte. Er wollte also Haydn nicht etwa engagieren, weil der schon berühmt gewesen wäre, sondern weil er diese Art von Musik schon beim ersten Hören mochte.

 

So kam Haydn nach Eisenstadt. Da war er als Nachfolger des alten Kapellmeisters vorgesehen, er hockte auf der Reservebank und war dem Fürsten bisher noch gar nicht begegnet. Der hatte Geburtstag, seine Hoheit nahm auf dem Hochsitz inmitten seines Hofstaates Platz, um sich eine festliche Sinfonie anzuhören, die speziell zu seinen Ehren aufgeführt wurde.

 

Kaum hörte er den ersten Satz, unterbrach er mitten im Allegro, als würde er einen CD-player auf Stopp stellen, um das noch einmal von vorne zu hören, weil es ihm so gut gefiel. Er wollte wissen, von wem die Musik sei. Wer hatte das komponiert? Als man antwortete, „Haydn“, kam ihm der Name irgendwie bekannt vor – richtig: diesen Haydn hatte er bereits engagiert, er war auch anwesend, irgendwo im Publikum versteckt, der Fürst ließ ihn vortreten, um ihn endlich persönlich kennenzulernen.

 

„Was dieser Mohr?“, rief er. „Ich will dich nicht in diesem Aufzug hier sehen. Du bist zu klein, und machst eine schlechte Figur. Nein, nein, du musst einen neuen Anzug haben, eine Perücke mit Locken, einen roten Kragen und ebensolche Schuhe, aber mit hohen Absätzen, damit deine Statur deinem Können angemessen ist.“

 

So war also der erste Eindruck, den seine Musik machte. Und so war der erste Eindruck, den Haydn als Person machte. Für Musiker gab es damals einen festen Dresscode. Weiße Strümpfe mit roten Schleifen sollten sie haben. Wir kennen inzwischen die Rechnungen: Fürst Esterházy hatte in dem Jahr allein für Bekleidung 4.500 Gulden ausgegeben, er ließ sich von erlesenen französischen Schneidern beliefern und verlangte nur beste Ware. Zum Vergleich: Das Jahresgehalt seines Kapellmeisters betrug ganze 400 Gulden.

 

Haydns Musik gefiel auf Anhieb – unabhängig von seinem Auftreten. So war es schon gewesen, als er in Wien als junger Straßenmusiker sein Glück versucht hatte und dabei stets auf der Flucht vor den Rumorwächtern war. Mit einem musikalischen Blumenstrauß wollte er die schöne Franziska beeindrucken, die Frau des berühmten Schauspielers Joseph Kurz. Der – nicht etwa sie – stürzte dann auch sofort aus dem Haus und zerrte den verblüfften Haydn in seine Wohnung.

 

Haydn schien ihm der Richtige zu sein, er wollte ihn testen: Er sollte die musikalische Untermalung zu einer Szene improvisieren, an der er gerade arbeitete. Haydn bestand den Test. Er verließ die Wohnung von Joseph Kurz mit seinem ersten Auftrag für die Kompositionen für das Singspiel Der krumme Teufel.

 

Nun war er in Eisenstadt. In der verschlafenen Provinz – sollte man meinen. Doch die Provinz war in Bewegung, sie versammelte sich regelmäßig in Wien, wenn da Saison war. Da reisten die Herrschaften aus nah und fern an, um die Künstler, die bei ihnen angestellt waren, vorzuführen. In der Wintersaison des Jahres 1761 waren es zwei Namen, die, wie es von Zeitgenossen genannt wurde, „Sensation machten“: Haydn und Gluck. Fürst Esterházy führte der geneigten Wiener Gesellschaft stolz seine neue Erwerbung – den neuen Vizekapellmeister Haydn vor –, der zum Shootingstar wurde. Christoph Willibald Gluck, der am Hof diente, war bereits ein Fixstern.

 

Kurz vorher – 1760 also – hatte Haydn geheiratet. Die Falsche. Er hatte sich in die jüngere der beiden Schwestern verliebt und nahm die ältere zur Frau. Beide waren Töchter des Perückenmachers Keller, bei dem Haydn in der schlechten Zeit untergekommen war. Die ältere hatte eine kleine Mitgift, die jüngere war dem Kloster versprochen.

 

Doch eine Hochzeit war die einzige Möglichkeit, eine Frau „zu Bette“ zu kriegen, wie es in den Worten des Singspiels vom krummen Teufel hieß, das wegen seines anzüglichen Textes sofort verboten wurde. Die Sitten unter Maria Theresia waren außergewöhnlich streng. Die Monarchin hatte die gefürchtete Keuschheits-Kommission eingeführt, über die nicht nur Casanova spottete. Das Intimleben der Bürger wurde aufs Peinlichste ausspioniert, ertappte Prostituierte wurden ausgepeitscht; wer ein uneheliches Kind in die Welt setzte, musste die Heirat unverzüglich nachholen.

 

Was einem Manne für ein Schicksal blühte, wenn er keine Frau abkriegte und Junggeselle blieb, wusste Haydn von dem Singspiel Der krumme Teufel, zu dem er schließlich selber die Musik geschrieben hatte. Da gab es die Figur des alten Lüstlings, der mit Hohn und Spott übergossen wurde. Was wiederum geschah, wenn man mit seiner Leidenschaft auf Abwege geriet, zeigte das aktuelle Ballet Don Juan – sowohl in der Musik als auch in der dramatischen Inszenierung: Wer sein Begehren nicht im Griff hatte, fuhr zur Hölle. Das wurde eindrucksvoll mit Fackeln dargestellt. Leidenschaft war im wahrsten Sinne des Wortes ein Spiel mit dem Feuer.

 

Bei der Gelegenheit brannte die Bühne ab. Nein, stimmt nicht. Kleiner Scherz. Es gab allerdings gelegentlich Brände in einem der Theater, wenn auch nicht gerade bei der Aufführung von Don Juan. Auch Haydns Wohnhaus in Eisenstadt, in dem er neuerdings mit seiner Frau lebte, brannte nieder. Damit brannte womöglich auch die Hoffnung ab, dass aus der Ehe noch einmal Kinder hervorgehen und dass es wenigstens eine halbwegs glückliche Ehe werden würde. So wie Goethe erleben musste, dass seine Frau mit seinen Gedichtblättern Brote einwickelte, musste Haydn erleben, wie seine Frau die Notenblätter eindrehte, um sie als Lockenwickler zu benutzen.

 

Über sein Eheleben mochte Haydn nicht gerne sprechen. Diesen Eindruck hatte jedenfalls sein Biograph Albert Christoph Dies. Vielleicht, so mutmaßte er, weil Haydn es „unwürdig“ fand, über das „häusliche Leiden“ zu lamentieren, oder weil es ihm einfach normal und „alltäglich“ vorkam – als wollte er sagen: Es geht doch allen so.

 

Ist Dir die Anrede „mein liebes Kind Kind!“ aufgefallen? Die barocke Mode hatte es gerne symmetrisch. Damals schrieb man tatsächlich einen hochgestellten Herrn mit „Herr Herr!“ an. Die Verdoppelung war nicht etwa Kindersprache, sondern Ehrbezeichnung. Die Umgangsformen waren kompliziert wie eine Fremdsprache, die man nie fehlerfrei beherrschen würde. Dennoch waren sie lebenswichtig. Die Menschen klammerten sich daran, als würden sie andernfalls ins Bodenlose stürzen. Es war nicht bloß eine Marotte des Adels.

 

Haydns Mutter kam aus einfachen Verhältnissen, sie gehörte zum Küchenpersonal, sie kannte sich gut mit den Umgangsformen der besseren Leute aus. Schon der kleine Haydn lernte von ihr Reinlichkeit und Ordnung. Vor allem Ordnung. Irgendeine Ordnung musste die Welt haben. Wenn es allenthalben so viel Chaos und Schrecken gab – Kriege, Krankheiten –, dann musste man sich umso mehr an eine Ordnung klammern.

 

Deshalb ist Deine Frage, was Haydn für ein Typ war, zugleich eine Frage nach Form und Inhalt, nach Wesen und Erscheinung. Äußerlichkeiten wurden geradezu als Wissenschaft betrachtet. Der hohe Anspruch an die Formalitäten war ein ständig zum Scheitern verurteilte Versuch, das „krumme Holz“, aus dem der Mensch, wie Kant sagte, geschnitzt ist, auf eine schnurgerade Linie zu ziehen.

 

Und was hatte Haydn für Vorbilder und Einflüsse? Wieso hatte er überhaupt welche, wenn er in Eisenstadt gebunden war? Wieso konnte er Teil des Weltgeistes, Teil des Zeitgeistes sein? Er konnte es, weil die Form dem Inhalt vorauseilte, als würden beide getrennt reisen. Die Methoden der Aufklärung verbreiteten sich schneller als deren Themen.

 

Die so genannte Gelehrtenrepublik, die wir uns als eine Art Nicht-Regierungs-Organisation der aufgeklärten Weltbürger vorstellen können, war gut vernetzt, in einem Internet der Postkutschen. Je besser die Postwege ausgebaut wurden, umso intensiver wurde auch der wissenschaftliche Austausch. Damit entwickelt sich der Brief als „geistiges Format“, entsprechend waren auch die großen literarischen Erfolge dieser Zeit Briefromane – wie von Rousseau und Goethe. Übrigens sind auch die bekannten Haydn-Biographien von Stendal und Carpani in Briefform gefasst.

 

Haydn hatte einen direkten Zugang zu den neuen Entwicklungen. Denn der Geist der Aufklärung verbreitete sich zunächst durch die Weltsprache der Mathematik, in einer Sprache also, die wie die Sprache der Musik nicht den Umweg über eine Übersetzung gehen musste.

 

Die Vordenker der Aufklärung hatten die Bahnen der Planeten errechnet und daraus erstaunliche Gesetzmäßigkeiten abgeleitet. Keppler, Galilei, Newton – sie alle waren sich einig, dass Gott die Welt nach mathematischen Formeln erschaffen hatte, und Gott hatte diese Gesetze in die Natur, in das „zweite Buch Gottes“, hineingeschrieben. Diese Gesetze galt es nun zu entdecken und nachzuvollziehen. Die Formeln die dabei gefunden wurden, brachten den rasanten technischen Fortschritt und sie ermöglichten die Entdeckung und Vermessung der Welt – und die wohltemperierte Stimmung, die zu einer Entdeckungsreise in die verschiedenen Tonarten einlud.

 

Doch eine bloße Anwendung der Regeln würde nur, wie man damals sagte, „gelehrtes Geräusch“ erzeugen. Damit wäre eine Rechenaufgabe gelöst, aber keine neue Erkenntnis gewonnen. Das wäre noch lange nicht Musik. So sehr die Frühaufklärung einer Zahlenverliebtheit erlegen war – was sich an dem Ergeiz zeigte, Spielautomaten; ja, vielleicht sogar einen künstlichen Menschen oder ein perpetuum mobile zu erschaffen – so wenig konnte man verbergen, dass mit den Zahlen keine Gefühle verbunden waren. Kein Leben. Als wären Zahlen immer nur nackt. Leere Gläser. Unbeschriebene Blätter. Es fehlte noch etwas Wichtiges: das Unmittelbare, das Lebendige.

 

Weißt Du noch, wie wir früher manchmal vor dem Schlafengehen die großen Fragen des Lebens gewälzt haben: Warum lachen Tiere nicht? Wer denkt sich eigentlich die Witze aus? Auch Wilhelm von Humboldt hatte Fragen gestellt, die wie Kinderfragen wirken: Warum singt der Mensch? Er hatte nicht gefragt: Warum rechnet der Mensch?

 

Haydns Mutter soll sehr schön gesungen haben, ihr Mann hatte sie dabei an der Harfe begleitet und schon der kleine Seppl soll dazu als little drummer boy den Rhythmus geschlagen und Luftgitarre – Luftvioline natürlich – gespielt haben. Es hat immer mich gewundert, wenn ich las, dass im Elternhaus von Haydn an „jedem“ Tag Musik gemacht wurde. An jedem! Vielleicht stimmt das. Musik muss ein Grundnahrungsmittel gewesen sein, sie gehörte dazu: bei der Arbeit, in der Gaststätte, in der Kirche. Nicht so wie heute; da ist Musik zwar auch allgegenwärtig, aber als Hintergrundmusik wie schlechtes Wetter, wie eine akustische Umweltverschmutzung.

 

Selbstgebastelte Weihnachtsgeschenke sind wertvoller als gekaufte, so wie mir auch deine selbst gemalten Bilder, die du mir geschenkt hast, besonders lieb sind. Musik wurde selbst gemacht. Wenn jemand in den verschiedenen Büchern, die ich über die Zeit lese, als „leidenschaftlich“ beschrieben wird, dann ist es stets der „leidenschaftliche“ Musikliebhaber: etwa dieser Graf von Morzin, oder Karl Joseph Weber von Fürnberg, der sich immer wieder Noten bei Haydn bestellt hatte, um damit zusammen mit seinem Beichtvater und mit Haydn selber zu musizieren. Haydn sollte auch in Eisenstadt nicht nur Musik für besondere Anlässe liefern, sondern für das tägliche Selbermachen.

 

Mit der Aufklärung war die Vorstellung von der Machbarkeit verbunden, als hätte es damals schon die Parole gegeben: „Yes, we can!“. Mehr noch: Rousseau hatte die Kindheit entdeckt und mit dem Kind das Spiel, das Schiller als die „Antriebskraft“ des Menschen sieht. Im Spiel ist der Mensch frei. Heraklit erkannte im Spiel der Kinder sogar ein Spiegelbild des Weltenschöpfers Zeus.

 

Denn es fehlte noch etwas. Die Erklärungsmodelle der Aufklärung hatten bei der Frage nach dem Geheimnis der Schöpfungs- oder der Antriebskraft einen blinden Fleck: Man konnte diese Kraft zwar messen und berechnen, man konnte dafür sogar eine Formel finden, man konnte aber nicht erklären, woher diese Kraft überhaupt kam.

 

Vielleicht wird deshalb so gerne die Geschichte erzählt, dass Haydn als junger Chorknabe am Grab von Antonio Vivaldi, der in Wien gestorben war, gesungen hat. Womöglich stimmt es gar nicht. Doch es wird gerne erzählt, weil es nahelegt, dass das musikalische Genie von Vivaldi wie ein Flaschengeist aus dem Sarg heraus entwichen ist und sich unter den zufällig umstehenden Knaben eine neue Wohnstatt ausgesucht hat. Natürlich ist das Unsinn, aber man hätte doch gerne eine Erklärung für die Entstehung und Übertragung dieser unerklärlichen Schöpfungskraft.

 

Alles können die Herren Wissenschaftler eben doch nicht erklären. Und so musste auch bei den Aufnahmen für das Haydn-Projekt noch etwas hinzugefügt werden, das ursprünglich sowieso dabei war, das aber nicht direkt in den Notenblättern steht: die Spielfreude! Diese wundersame Kraft aus dem Paradies der Kindheit, die an das Spiel der Götter erinnert. Denn Spiel ist Leidenschaft – und das Glück liegt in der Tat. Im Selbermachen.

 

Sonst fehlt die süße Mühsal, mit der man sich etwas aneignet – und nun da ich Dir schreibe, merke ich, wie sehr ich es vermisse, dass ich nicht mehr selber Musik mache. Man muss mit den Formen ringen, muss sich an Widerständen reiben, muss sie überwinden oder sich irgendwie damit arrangieren und mit ihnen leben. Erst so schafft man sich das richtige Leiden für eine richtige Leidenschaft. Erst die Reibung, die man beherrscht oder in Kauf nimmt, macht etwas wertvoll. Deshalb sagt man ja auch: Liebe ist nicht etwa Reibungsverlust, sondern Reibungsgewinn.

 

Also, in diesem Sinne: halt die Ohren steif und spiel weiter, so lange es geht, mein liebes Kind Kind!“