Es ist schon ein paar Sommer her, da geschah es unvermutet in der S-Bahn, mitten in Berlin: Die Stadt war in trübes Goldlicht getaucht, die ersten Lichter gingen an, obwohl es noch hell war, man hatte irgendwie das Gefühl, dass alle Fenster offen standen und eine angenehme Milde in der Luft lag. Polen ist nicht weit, dort nennt man so eine Dämmerung die „Stunde des Zàl“ und verbindet sie mit einem Gefühl der Wehmut. Doch es lag nicht nur Wehmut in der Berliner Luft, auch eine Ahnung von Glück.
Plötzlich fingen wie auf ein geheimes Zeichen etwa zehn junge Frauen an zu singen. Vielleicht waren sie gerade auf Klassenfahrt, sie fanden sich ganz selbstverständlich zusammen, ohne sich großartig abzusprechen. Sie waren erstaunlich textsicher, sie kannten alle Strophen, kannten sie auswendig – „by heart“, wie man auf Englisch sagt. Sie sangen Songs, die man auch im Radio hören konnte, ich kann mich nur noch an ‚Lemon Tree’ von Fools Garden erinnern – so was in der Art. Vielleicht waren es Freundinnen, die schon so manchen gemeinsamen Besuch in Karaoke-Bars hinter sich hatten. Es war jedenfalls kein Betriebsausflug von einem Chor. Sie sangen, weil sie die Lieder mochten und weil sie offenbar gerne sangen. Einfach so. Die Fahrgäste waren betört. Sie konnten sicher sein, dass die Sängerinnen nicht anschließend mit dem Pappbecher herumgehen und betteln würden, sie würden den Zauber der Musik nicht missbrauchen, sie waren selber ein Teil davon.
Für Rousseau war es nicht nur die Erinnerung an die viel beschworene Kindheit, es war auch eine bestimmte Art von Musik, die den Menschen zurückführen konnte zu einem verlorenen Urbild vom Paradies. Eine gewisse Ahnung davon hatten ihm die Abendgesellschaften von Madame de Warens gegeben, die er als junge Mann erlebt hatte und an die er sich am Ende seines Lebens in seinen ‚Träumereien eines einsamen Spaziergängers’ gerne erinnert: „Wenn der Abend schön war, gingen wir nach dem Abendessen alle zusammen auf der Terrasse ein wenig spazieren, um die frische Seeluft zu atmen. Wir ruhten uns im Pavillon aus, lachten, schwatzten und sangen irgendein altes Lied, das dem geschraubten modernen Zeug durchaus das Wasser reichen konnte, und schließlich gingen wir, zufrieden mit dem vergangenen Tag, schlafen und hatten nur den Wunsch, am nächsten Tag wieder etwas Derartiges zu erleben.“
Die Tage des Glücks, die Rousseau so eindrucksvoll beschreiben konnte, endeten fast immer mit einem Abendlied. „Nach einem schönen Lied ist man zufrieden und das Ohr begehrt nichts weiter. Es bleibt in der Vorstellung erhalten, man nimmt es mit und wiederholt es nach Belieben.“
So ein Abendlied hatten die Frauen den Fahrgästen geschenkt.
Ein Gefühl der Wehmut war auch dabei: Es wurde nämlich deutlich, was uns fehlt: Die Freude am Singen fehlt uns, die Inbrunst, die Innigkeit (ich kann das jetzt nicht anders ausdrücken, ich weiß sehr wohl, dass gerade diese Begriffe vielen verdächtig sind). Es fehlen uns auch die Lieder, die wir zusammen singen könnten; die Lieder, die wir, wie Rousseau es genannt hat, in der Vorstellung erhalten, mitnehmen und nach Belieben wiederholen können. Können wir? Nein. Wir sind sprachlos, wenn wir singen wollen. Könnte man sich diese Szene vorstellen mit Liedern, die in deutscher Sprache gesungen werden?
Keine gute Frage. Die Antwort liegt auf der Hand: nein. Es fängt schon im Kindergarten an. Da singen die Kleinen ‚Happy Birthday’. Das gefällt Frauke Petry von der AfD nicht, sie wünscht sich mehr deutsches Liedgut. Wolfgang Thierse von der SPD hatte schon 2003 eine Quote für das deutsche Lied nach französischem Vorbild gefordert, und die ‚Deutsche Sprachwelt’ (Die Sprachzeitung für alle) hat am „Tag der deutschen Sprache“ eine Petition für mehr deutsche Musik im Radio gestartet. Bin ich dabei? Nein. Ich kann mich dazu nicht durchringen. Ich bin gegen Quoten. Die meisten deutschsprachige Texte, die ich im Radio höre, gefallen mir nicht. Manchmal stört mich der Text regelrecht. Bei fremdsprachigem Gesang fällt das wenigstens nicht so auf.
Und doch: Es fehlt uns etwas, wenn wir keinen „deutschen Sang“ haben, wie es in der zweiten Strophe im ‚Lied der Deutschen’ heißt: „Deutsche Frauen, deutsche Treue, deutscher Wein und deutscher Sang …“ Deutsche Frauen waren da; was fehlte, war der deutsche Sang.
Es fehlt uns nicht so sehr die erwähnte Inbrunst. Die kann man auch in anderen Sprachen haben. Die kann man notfalls simulieren, indem man den Kopf leicht zur Seite neigt und beim Singen – so wie es viele auch beim Küssen tun – die Augen schließt. Es fehlt uns das, was ich Aneignung nennen würde, es fehlt uns die Möglichkeit zu einem gebrochenem und zu einem reflektierten Umgang. Es fehlt uns die Möglichkeit, die Sache mit Humor zu nehmen, mit „inniger Ironie“, wie es Peter Handke womöglich sagen würde.
Meine Mutter hörte das Lied ‚Schau mich bitte nicht so an’ wahrscheinlich in der Fassung von Paul Kuhn. Vielleicht kannte sie sogar das Original ‚La vie en rose’ von Edith Piaf. Doch das war Französisch. Das konnte sie nicht. Die deutsche Version gab ihr nicht nur die Möglichkeit mitzusingen, wenn sie das Lied irgendwo hörte, oder für sich alleine zu singen, wenn es ihr in den Sinn kam, sie hatte damit gleichzeitig eine Zeile im Kopf – nämlich: „Schau mich bitte nicht so an“ – nicht gerade eine besonders tolle Zeile (die übrigens nicht dem Original entspricht), aber immerhin. Es war, als hätte sie ein Gedicht auswendig gelernt, das andere in ihrer Klasse auch gelernt hatten, das sie bei Gelegenheit in einer eingeweihten Gesellschaft zitieren, abwandeln und weiter verwenden konnte. So sagte sie manchmal halb singend, halb lächelnd „Schnauz mich bitte nicht so an.“
Natürlich hat niemand in unserer Familie die Mutter angeschnauzt, und sie war es auch nicht selber, die diese durchaus naheliegende Umdichtung vorgenommen hatte. Die hatte sie irgendwo aufgeschnappt. Solche Umdichtungen gehen mit der Verbreitung einher. Sie brechen das Pathos und ironisieren die Sentimentalität. Sie geschehen ganz von alleine, wenn der Volksmund mit seiner großen Klappe populäre Lieder und Parolen durchkaut und verbreitet.
Das macht Spaß. Wenn die Stimmung auf Familienfeiern einen gewissen Pegel erreicht hatte, wurde bei uns der ansonsten gänzlich unbeliebte Schlager ‚Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben’ von Jürgen Marcus nachgesungen in der verbesserten Textversion: „Eine neue Putzfrau ist wie ein neuer Besen.“ Der Spaß geht weiter. DJ Ötzi muss damit leben, dass ‚Ein Stern, der deinen Namen trägt’ zu „Ein Lärm, der deinen Namen trägt“ umgedichtet wird. Es geschieht ihm Recht.
Für meinen Großvater war es noch selbstverständlich, dass internationale Hits ins Deutsche übersetzt wurden. Als ich ihm einst ‚Yesterday’ vorspielte, um ihm zu zeigen, dass die Beatles gar nicht so schlimm waren, wie er vielleicht denkt, hat er nur gesagt: „Deutsch singen können die wohl auch nicht, wa?!“ Dabei konnten die das. Sie versuchten es mit ‚Komm gib mir deine Hand’ und ‚Sie liebt dich’. Das war’s dann auch. Die Handreichung hat nicht so recht funktioniert, als würde die deutsche Sprache die Beatles nicht lieben. Englisch setzte sich ab den sechziger Jahren durch.
In der Zeit zog die Popmusik auch ins Fußballstadion ein. So will es eine Studie zeigen, die als Beispiele dafür ‚Hold Tight’ von Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick & Tich nennt (da kommt es auf den Beat an: dam, dam, dam-dam-dam, dam-dam-dam-dam, dam, dam …) und ‚Yellow Submarine’ von den Beatles. Das war in England. Auch in Deutschland tauchte das U-Boot immer wieder auf. Noch Jahrzehnte später wurde die Zeile „we all live in a yellow submarine“ umgedichtet zu „Zieht den Bayern die Lederhosen aus“, und als im Jahre 2006 die deutsche Mannschaft Schweden besiegte, hieß es zur selben Melodie „Ihr seid nur noch Möbellieferant“. Die aktuelle Version „Ihr seid nur noch Rindfleischlieferant“ konnte nicht mehr so recht überzeugen.
Doch worauf soll man zurückgreifen, wenn man etwas nutzen will, das alle kennen? Als die Mannschaft das Finale erreicht hatte, wurde „Fi-na-le!“ gesungen nach der Melodie von ‚Volare (Nel blu dipinto di blu)’ von Domenico Modugno aus dem Jahre 1958. Das ist verdammt lang her. Doch was soll man nehmen? Zur Melodie von ‚Guantanamera’ – die kennt wenigstens jeder – können alle mitsingen: „Ein Rudi Völler, es gibt nur ein’ Rudi Völler“.
Dann hat man wenigstens eine alte Melodie mit einem neuen Text, man hat aber nicht den Anklang an die Sprache, es gibt dann keine Ähnlichkeit wie bei „Stern“ und „Lärm“ oder wie bei „schauen“ und „schnauzen“. Wenn man die auch noch will, gerät man in den babylonischen Strudel von Missverständnissen und Witzen, die an den Haaren herbeigelogen sind. Auf einer CD mit Blaubär-Liedern wurde ‚Guantanamera’ nachgedichtet (ich war es nicht) zu „Quanten im Meere, wer hat die Quanten im Meere?“
Damit sind wir sogleich im Wunderland der „missheard lyrics“. Wer es noch nicht kennt, sollte sich unbedingt den „alten Keks“ anhören.
Das ist nicht mehr die Art von unfreiwilliger Komik, die wir bisher kannten, das ist Multikulti-Komik, die aus zufälligen Klangähnlichkeiten entsteht. Das ist nur noch gaga. Wenn man sich jedoch den eingängigen Refrain und das Stichwort „Milchgänse“ gemerkt hat, ist man verloren für die Ernsthaftigkeit und Inbrunst des Originals.
Stefan Gwildis versucht es mit Ernsthaftigkeit. Er singt als deutsche Version von ‚Papa Was a Rolling Stone’ „Papa will hier nicht mehr wohn’“ und erzählt uns die Geschichte von einem ehemaligen Stasi-Mitarbeiter, die klanglich der englischen Version ähnelt. Unfreiwillig zeigt er damit, dass Deutschland in Sachen Popmusik eine Bananenrepublik ist. Wir haben solche Songs nicht, die so stark sind wie das Original von den Temptations – und wir kriegen sie auch nicht durch einen deutschen Text, der sich angestrengt darauf reimt und keine Lachnummer sein möchte.
Brian O’Gott (Künstlername) hat solche Probleme nicht. Er hat Tina Turners Hit ‚Your Simply The Best’ nachgesungen mit dem Text: „Du stinkst wie die Pest!“ Er trug dazu hochhakige Schuhe und ein Abendkleid – lange eh es Conchita Wurst tat. Es war in der Zeit, als Helmut Kohl den damals aktuellen Hit als Wahlkampfschlager verwendete. So viel Englisch traute die CDU ihren Wählern offenbar zu. Da brauchte man keine Übersetzung.
Die bräuchte man auch nicht, wenn man Nenas ‚99 Luftballons’ im Wahlkampf einsetzen würde. Da haben wir sofort das Bild von einem Lokalpolitiker vor Augen, der in der Fußgängerzone Luftballons an Kinder verschenkt, um zu zeigen, wie windig die politischen Versprechungen sind und wie sehr der Wahlkampf inzwischen zu einer öden Kinderparty verkommen ist. Eine Zusatzstrophe könnte beispielsweise „99 Kugelschreiber“ heißen.
Bei einem Einsatz von deutschen Texten müsste auch die Regie stimmen. Einmal geriet ich, als ich ahnungslos am Wittenbergplatz ausstieg, in eine CDU-Kundgebung, die mit aktuellen deutschen Schlagern umrahmt wurde, da hörte man gerade Andrea Berg singen „Du hast mich tausend Mal belogen …“, dann griff Roland Koch zum Mikrophon.
Meine Lieblingsversion von ‚Simply The Best’ stammt aus der hohen Schule des Humors aus dem hohen Norden. Die Spaßpartei in Island hatte dieselbe Idee wie einst die CDU in Deutschland. Doch die haben etwas daraus gemacht, das sich hören und sehen lassen kann.
Es ist ergreifend. Es ist komisch. Es nutzt die Wirkung der Popmusik und führt sie zugleich vor. Jon Gnarr fordert einen Eisbären für den Zoo, Badetücher für alle und ein drogenfreies Parlament. Er verkündet außerdem, dass sie in Reykjavik nur einen Weihnachtsmann brauchen. Der Griff nach den Sternen mit dem Gebrauch des Superlativs, der in dem verwendeten Song steckt, wird beibehalten und zugleich parodiert. Das Private wird politisch. Die Politik wird lächerlich gemacht und wird gleichzeitig wieder möglich. Jon Gnarr hatte die Wahl gewonnen.
So etwas wünsche ich mir: freundliche Übernahmen mit Respekt für das Original. Wir brauchen keine Quote. Wir brauchen Qualität. Wir brauchen gute Lieder. Natürlich in der Landessprache. Sonst wirken sie nicht richtig.
Denn es muss eine „innige Verschmelzung“ von Musik und Text geben. Rousseau meinte, dass die Griechen noch über eine wunderbare Einheit von Sprache und Musik verfügten, die aber leider abhanden gekommen ist. Schade. Deshalb kann er auch nicht beweisen, dass es die bei den Griechen tatsächlich gegeben hat. Er hat jedoch noch ein andere Beispiel auf Lager: die geheimnisvolle Wirkung schweizerischer Volkslieder, die so genannten „Ranz-des-vaches“. Dabei handelt es sich um ein „den Schweizern so teures Lied, das bei den Soldaten zu spielen unter Todesstrafe verboten war, weil es diejenigen, die es hörten, weinen, desertieren oder gar sterben ließ: So sehr erregte es in ihnen eine glühende Sehnsucht, ihre Heimat wieder zu sehen“.
So schlimm wird es bei uns schon nicht werden. Ich sehe da kein großes Risiko. Ich denke, wir können es durchaus wagen und ab und zu mal singen. Auch auf Deutsch. Sehr schön ist zum Beispiel das Abendlied ‚Der Mond ist aufgegangen’. Und wenn man dann an die Stelle kommt, an der es heißt, dass „der weiße Neger Wumbaba“ aus den Wiesen steiget, dann ist die Welt wieder in Ordnung.