Tübingen protestiert – ich auch

 

 

 

 

 Tübingen

 

Oho! In Tübingen gab es Protest. Wer macht denn so etwas?

Ich. Ich protestiere. Hiermit.

 

 

Das Stadtmuseum präsentiert noch bis Juli eine ungewöhnliche Ausstellung – genau gesagt eine Interventionsausstellung – mit dem Titel, „Protest!“ und dem Untertitel „Stricken, Besetzen, Blockieren – in den 1970/80er Jahren in Tübingen.“

 

Für mich hieß das: Nichts wie hin. Schließlich war ich live dabei. Beim Protest – nicht beim Stricken. Schon im ersten Raum überrumpelten mich die Erinnerungen; die Plakate des Club Voltaire begrüßten mich wie alte Freunde und ich dachte mir: Die Handschrift kenne ich doch. Richtig! Die Poster sind alle von dem unermüdlichen Aktivisten Eckard Holler beschriftet, als hätte er sie persönlich signiert.

 

Auf einem kleinen Bildschirm läuft ein Film, der Festival-Bilder zeigt, die mir ebenfalls bekannt vorkommen. Sie stammen, so steht es auf dem Beipackzettel, aus dem Jahre 1986. Über Kopfhörer kann man sich den Kommentar dazu anhören. Die Stimme kommt mir auch bekannt vor. Es ist meine eigene.

 

Schon ist es soweit. Schon muss ich protestieren und intervenieren. Denn schon ist mir klar, was an der Ausstellung nicht stimmt: Sie ist nicht richtig im Kalender einsortiert. Damit verliert eine Ausstellung zum Thema „Protest“ seinen Sinn. Protest ist an Aktualität geknüpft, an ein Verständnis der historischen Umstände. Zwar beanspruchen die „Studierenden“, wie sie im Vorwort des Katalogs schreiben, die Protestkultur „historisch verortet“ zu haben, doch genau das haben sie nicht getan. Zeit und Raum haben sie nicht richtig auf die Reihe gekriegt.

 

Werner Heisenberg mit seiner berühmten Vorstellung von der Unschärferelation bei einer Orts- und Zeitbestimmung ist der heimliche Schirmherr dieser Ausstellung: den Ort können wir präzise bestimmen; der Ort ist Tübingen: Längengrad 9.0536, Breitengrad 48.5369. Doch die Zeit … na ja – wer weiß das schon? –, das war irgendwann in den 70er oder 80er Jahren, im Dunkel des gelebten Augenblicks, wie Ernst Bloch womöglich sagen würde. Vielleicht war es vor 1975, vielleicht nach 1985, kommt nicht so drauf an – oder?

 

Doch. Es kommt darauf an. Den Text habe ich 1977 gesprochen. Nicht 1986. Damals wollten wir mit Bordmitteln eine Dokumentation erstellen, weil es sonst niemand machte. So entstanden die ersten bewegten Bilder von den Festivals, wie sie der Club Voltaire ab 1975 veranstaltete. Mit der Stoppuhr in der Hand habe ich den Text entworfen und gleich selber auf die Tonspur gesprochen wie ein Tourist, der seine Urlaubsreise in Super8 gefilmt hat und anschließend vertont. Es war eine Selbstdarstellung.

 

Und dann? Dann äußert sich – wir sind immer noch im selben Film – eine Besucherin und sagt: „Ein bisschen sehe ich die Gefahr, so wie es bei Musik meisten ist, dass man sich so von der Musik einnehmen lässt, dass man gar nicht auf die Texte achtet.“ Wie kommt diese Frau in den Film?

 

Gretel

 

Schwäbischer Wein zum herabgesetzten Preis

 

Der Film ist verpanscht. Da wurden einfach mehrere Jahrgänge von gutem und von weniger gutem Wein zusammengeschüttet. Übergangslos ist der Amateur-Film zu einem professionellen Film geworden. Aus dem Selbstzeugnis wurde eine Fremdwahrnehmung. Allerdings eine aus einer anderen Zeit. Die Frauenstimme stammt aus dem Jahre 1985.

 

Inzwischen gab es mehrere Fernsehberichte über die späteren Festivals mit den üblichen (willkürlichen) Publikumsbefragungen. Die hat man kurzerhand dazu gemischt, und so wurde mit einem groben Kochlöffel all das zusammengerührt, was sich in einem Zeitraum von zehn Jahren entwickelt hat. Alles, was sich im Spannungsfeld zwischen Grenzüberschreitung und Wiederholung, zwischen Initiative und Verwaltung abgespielt hat, wurde zu einem Einheitsbrei vermanscht. Guten Appetit. Das soll „Protest“ sein? Bei dem Stichwort denken manche womöglich an die Studentenbewegung. Wann war die eigentlich?

 

Der Film zeigt Bilder von einem nur spärlich gefüllten Schlosshof aus dem Jahre 1985. 1975 sah das anders aus. Die ersten Festivals hatten uns vor das Problem gestellt, Ausweichorte zu finden, weil der Schlosshof überfüllt war, und – so muss man richtigerweise sagen – die Leute kamen gerade, weil sie neue Texte hören wollten. So war es nämlich angekündigt. Wenn ein Besucher etwas anderes erwartet hatte, war er falsch.

 

Die Festivals nannten sich – die richtige Bezeichnung ist der Schlüssel zum richtigen Verständnis – „Folk- und Liedermacherfestival“. Mit dem Reizwort „Liedermacher“, das damals noch einen anderen Klang hatte als heute, konnte man Besucher aus nah und fern anlocken. Ein Liedermacher war eine große Neuigkeit und eine kleine Sensation. Er machte alles selber, das war schon mal gut; ein Liedermacher bot mit seinen selbst gemachten Liedern, auch wenn sie etwas unbeholfen daherkamen, eine Alternative zur kommerziellen Kultur; ein Liedermacher kannte womöglich neben seinen eigenen Stücken auch die neuesten Protestsongs aus der großen, weiten Welt. Ein Liedermacher gehörte – wenn auch entfernt – zur Großfamilie von Bob Dylan oder von Heinrich Heine. Darin lag der Reiz.

 

Wo war da die Gefahr, dass die Zuhörer so sehr von der Musik eingenommen wurden, dass sie nicht auf die Texte achteten? Etwa – um mal die Künstler, um die es geht, konkret zu nennen – bei Christof Stählin, Georg Kreisler, Hannes Wader, Walter Mossmann, Günther Wölfle, Thommie Bayer oder später bei Wolf Biermann? Nichts da. Man müsste der Kommentatorin zurufen: Umgekehrt wird ein Damenschuh draus. Die Besucher kamen, um kritische oder künstlerisch ambitionierte Texte zu hören, aktuelle oder historische. Protest (und darum geht es schließlich) war nicht nur die Frage einer grundsätzlichen Haltung, Protest hatte auch konkrete Inhalte.

 

Jan Weber dagegen fand bereits das erste Festival in Tübingen im Vergleich zu dem, was er zehn Jahre zuvor erlebt hatte, harmlos und unbedeutend. „Ein Liedermacherfestival 1965 war Grund für Unruhe unter den verfassungsschützenden Organen“, schrieb er, „1975 gehört es zur gewohnten Szene“. Aber nein. Das Festival war etwas Neues, Überraschendes, Ungewöhnliches und gehörte keineswegs zur gewohnten Szene. Es war auch nicht klar, was davon zu halten war – und was daraus noch werden würde.

 

Mit dem geheimnisvollen Festival aus dem Jahre 1965 meint Jan Weber das Bardentreffen auf der Burg Waldeck, für das er seinerzeit Rundfunkaufzeichnungen organisiert hatte. Auch er geht sehr großzügig mit der Datierung um; denn so spannend war es da im Jahre 1965 auch nicht gewesen, erst 1968 brach die politische Unruhe in die Abgeschiedenheit der Wald- und Riesenromantik ein, als es hieß: „Stellt die Gitarren in die Ecke und diskutiert“.

 

In der Universitätsstadt Tübingen wurde sowieso diskutiert. Hier war die Invasion der Gitarren die große Neuigkeit. Zudem liegt die Burg Hohentübingen nicht etwa schwer zugänglich irgendwo im Hunsrück, sondern mitten im Ort. 1975 wurden da die Türen und Tore geöffnet, mit dem Festival trat der Club Voltaire, der bisher ein Nischendasein geführt hatte, „ins Offene“, wie Hölderlin vielleicht sagen würde. Nicht nur das Unigelände, die gesamte Stadt wurde eingenommen, an allen möglichen Plätzen entstanden improvisierte Bühnen.

 

Der kritische Beobachter Thomas Rothschild legte sogleich die Stirn in Sorgenfalten, solche Festivals, gab er zu bedenken, würden schließlich zu einer „akustischen Stadtverschönerung“ führen. Wohl wahr. Nun ist es so weit. Nun gehört eine Gitarre ganz selbstverständlich zum Stadtbild, nun kann man wirklich sagen, dass sie zur gewohnten Szene gehört. Ein bisschen Festival ist inzwischen überall in der Stadt.

 

Es scheint unglaublich, es ist dennoch wahr: Anfang der 70er Jahre konnte man in Tübingen mitten auf dem Marktplatz parken. Es gab nirgendwo Straßenmusiker. Es gab nicht einmal eine Fußgängerzone. Es gab keinen Bioladen – nur ein Reformhaus. Kann sich noch jemand erinnern? Saß jemals irgendwer auf einem der Balkone? Ich glaube nicht. In meiner Erinnerung hockten die Schwaben auch bei bestem Wetter grundsätzlich nicht draußen, damit auch ja niemand den Eindruck haben könnte, sie würden gerade nicht schaffen.

 

Das hat sich geändert, the timest they are a-changing. Inzwischen hat sich Tübingen in ein arkadisches Müslingen verwandelt, es ist eine weltoffene, freundliche Gartenstadt geworden. Man sitzt selbst bei leichtem Nieselregen im Freien, lacht, hält sich an den Händen, beglückt die Straßenmusiker mit großzügigen Spenden, und der Goldstaub des Paradieses funkelt in den Weingläsern.

 

Ist das alles den Festivals zu verdanken? Natürlich nicht. Wem dann? Hegel weiß es: dem Zeitgeist. Der hat den Kulturwandel angestoßen. Willy Brandt hatte schon Anfang der siebziger Jahre das Schlagwort von der „Lebensqualität“ ausgegeben; auch das Stichwort „Alltagskultur“ war nicht nur innerhalb der Räume des Ludwig-Uhland-Instituts für Empirische Kulturwissenschaften zu hören. Das Leben wurde heiter und bunt. Wo blieb da der Protest? Wie sah er aus? Bestand er darin, gegen etwas zu sein. Oder war er auch für etwas?

 

Gruppo

 

Girls just wanna have fun

 

Eben das hätte die Ausstellung zeigen können. Es wäre gut möglich gewesen. Für eine historische Verortung, wie es sich die Ausstellungsmacher vorgenommen hatten, hätten sie ein wenig nach links und rechts schauen müssen, sie hätten das Besondere leicht erkennen können. Festivals mit Folkmusik zum Mitsingen, Händchenhalten und Küsserauben gab es nicht nur in Tübingen. Auch anderswo tanzten junge Frauen in wehenden Gewändern zu wehmütigen Klängen barfuß im Kreis herum.

 

Damals bot auch die Sparkasse Vergnügungen an, die sich „Folk & Fun“ nannten. Schon ein flüchtiger Vergleich hätte die Unterschiede zu dem, was der Club Voltaire veranstaltet hat, deutlich gemacht. Doch die Ausstellungsmacher haben die Folkmusik eben nicht in ihrer historischen Verortung verstanden, sie haben sie lediglich als das Gegenteil von politischen oder künstlerischen Ansprüchen gesehen – nur als fun.

 

Im Katalog zur Ausstellung schreibt Judith Rühle: „In den ersten drei Jahren stand Folk-Musik im Mittelpunkt der Festivals“. Das ist falsch. Damit entgeht ihr der Witz. Und obendrein die Pointe. Wir müssen nur mal einen flüchtigen Blick auf die Plakate werfen – was sehen wir da? Im Mittelpunkt der Festivals stand nicht „Folk“, sondern „und“. Die Festivals nannten sich „Folk und Liedermacher-Festival“. Und!

 

Der Witz an der Sache war die Gemeinsamkeit, die gute Verträglichkeit der beiden Programmpunkte. Liedermacher und Folkies, wie man sie vertraulich nannte, gingen Hand in Hand durch Tübingen und taten es gerne: die Folkies hatten die Tradition im Gitarrenkoffer, die Liedermacher die Aktualität; die Folkies schleppten die Schwere des Gefühls an, die Liedermacher erfreuten sich am Leichtsinn der Gedanken; die Folkies brachten die alte Musik auf die Bühne, die Liedermacher die neuen Texte. Es war nicht nur ein zufälliges Nebeneinander. Es war ein echtes Miteinander, zu dem sich noch die Gitarrenvirtuosen gesellten. Erst zusammen ergab es ein Ganzes. Das war das offene Geheimnis.

 

Doch Judith Rühle versucht, die Pole gegeneinander auszuspielen: Folkmusik war ihrer Darstellung nach unpolitisch, und politische Texte wollten die Leute eigentlich nicht hören. Um das zu untermauern, bemüht sie noch einmal die mäkelige Frauenstimme aus dem Film sowie weitere Stimmen, die zugeben, dass sie einfach nur Musik hören, Leute treffen und tanzen wollten, und sie weiß zu berichten, dass bei einem Auftritt der Gruppe Lilienthal die Instrumentalstücke mehr Applaus gekriegt hatten als die Lieder über den Widerstandskampf der Weißen Rose.

 

Schon in der Überschrift ihres Artikels stellt sie eine falsche Frage: „Lieber leicht konsumierbar anstatt avantgardistisch“? Vor so einer Alternative standen wir nicht. Warum nicht beides? Die wahrscheinlich beliebteste Gruppe, die gleich mehrfach zu Gast war und die, wenn man mich fragt, am besten das Zusammenspiel der verschiedenen Ansprüche verkörpert – also die typische Festival-Gruppe schlechthin –, war die Gruppe Poesie und Musik (mit Orlando Valentini, dem inzwischen verstorbenen René Bardet und dem inzwischen international bekannten Andreas Vollenweider). Sie nannten sich bekanntlich „Poesie und Musik“, nicht etwa „Lieber leicht konsumierbare Musik anstatt anspruchsvoller Poesie“ – also „und“, nicht „lieber … anstatt“.

 

Wenn es das seltsame Wort „Alleinstellungsmerkmal“ damals schon gegeben hätte, hätte ich es damals schon nicht gemocht, doch ich hätte sagen können, worin das Alleinstellungsmerkmal der Festivals bestand und womit sie das Hinweisschild NUR HIER verdient hätten: Es war die Nähe zur Universität. Na gut, auch bei den Festivals in Mainz liegt eine Uni in Reichweite, aber Tübingen hatte Hegel und Bloch. Wenn wir uns die Universität als eine (von mir aus selbstgestrickte) Socke vorstellen, dann wurde mit den frühen Festivals diese Socke von innen nach außen gestülpt. Die Universität ist traditionell der Ort für die Welt des Geistes – für den Weltgeist. Der wurde freigesetzt und schwirrte zusammen mit den angereisten Geistern aus aller Welt mit Musikbegleitung durch die Gassen.

 

Hegel

 

Wohin gehen wir? Immer nach Hause

 

Nach dem Blochschen Geschichtsverständnis war es möglich, einen Rahmen abzustecken, in dem dieses neuartige Phänomen, das sich „Folk“ nannte, vorläufig einsortiert werden konnte. Damit konnte der Sache ein eigener Glanz, ein besonderes Ansehen verliehen werden, das die Folkies ihrerseits gerne annahmen, weil sie sich einem gewissen Rechtfertigungszwang ausgesetzt fühlten und unbedingt zu einer rechtslastigen Volksliedtradition auf Distanz bleiben wollten.

 

Wenn man Bloch folgen mag, dann hat Geschichte einen Sinn. Sie führt irgendwo hin. Wenn wir uns die Entwicklung der Weltgeschichte als Wegstrecke vorstellen, dann erkennen wir – oh, Wunder –, dass das Repertoire der historischen Folksongs verschiedene Stationen auf diesem verschlungenen Weg markiert. Die Kämpfer im Bauernkrieg des Jahres 1521 und die Bürger, die während der Achtundvierziger-Revolution auf den Barrikaden standen, haben erstaunlicherweise, auch wenn sie keine Zeitgenossen sind, etwas gemeinsam: Sie alle stehen in einer „kryptischen Tradition“, sie sind verbunden durch das „identisch Gemeinte“, durch die „Invariante der Richtung“, die letztlich in eine Welt frei von Unrecht führt, von der wir gelegentlich einen „utopischen Vorschein“ erhaschen. So ein Geschichtsverständnis ist wie eine Kette: Bloch an Bloch – und hält doch.

 

Kurz: Wir haben den Folkies versichert, dass sie dazugehören, dass sie getrost bei uns aufspielen können, wir würden als Veranstalter bereitstehen und auf Nachfrage jederzeit theoretisch begründen können, dass ihre Musik eine tiefe Bedeutung hat, dass sie genauso zu den Guten gehören wie die aktuellen, kritischen Liedermacher und dass sie keinesfalls Ewiggestrige oder gar einfältige Dudel-Musiker sind, die nicht wissen, wo sie politisch hingehören.

 

Manchen kam das aufgesetzt vor. Der Club Voltaire galt sowieso (zumindest bei einigen) als arrogant und intellektuell verstiegen. Da erwartete man keine ergreifenden Lieder, sondern beißenden Spott; dem alten Voltaire wird schließlich der Spruch zugeschrieben: „Was zu dumm ist, um es auszusprechen, das singt man.“ Und nun sollte doch gesungen werden? Manche konnten das nicht zusammenbringen, sie stellten sich vor, dass dann zwei Seelen in einer Brust wohnen müssten, die aber, weil die Menschen heutzutage so schmalbrüstig sind, in so einer Brust nicht genug Platz finden.

 

Vielleicht hätten wir uns Club Rousseau nennen sollen, womöglich hätte es das Verständnis erleichtert. Rousseau, der vermutlich eine sehr geräumige Brust hatte, brachte die Welten zusammen: kritisches Denken und Sentimentalität, Aufklärung und Singspiel. Mit seinem Hang zu privaten Bekenntnissen und seiner Vorliebe für unkomplizierte Musik kann man ihn womöglich sogar als heimlichen Schutzpatron der späteren Liedermacher ansehen.

 

Bei der Ausstellung sieht man nichts davon. Da werden die Festivals dargestellt, als hätten die Ausstellungsmacher die Plakate nicht angeguckt, die Programmhefte nicht gelesen und nicht gemerkt, dass die Festivals mehr waren als rauschende Partys. Sie waren umstritten. Sie wurden angefeindet. So manchen gefiel die ganze Richtung nicht; sie hielten das für linke Unterwanderung, sie misstrauten den freundlichen Tönen und fürchteten um den guten Ruf, als könnten die alten Mauern Tübingens über Nacht mit einer unsichtbaren, aber bleibenden roten Farbe beschmiert werden.

 

Die Ausstellungsmacher dagegen meinen, dass sich bei den ersten drei Festivals der politische Anspruch „in Grenzen“ hielt, und so ignorieren sie die ersten und konzentrieren sich auf die letzten, bei denen sie dann einen Niedergang der politischen Kultur feststellen. Das passt nicht zusammen. Wenn einerseits Folkmusik als gefälliges Musizieren ohne weitere Bedeutung abgetan wird und andererseits die „Mitarbeitenden“ des Club Voltaire als politische Aktivisten darstellt werden, wie darf man sich dann deren Engagement vorstellen?

 

Etwa so, dass die Veranstalter zunächst eine Musikrichtung, an der sie gar kein echtes Interesse hatten, in den Mittelpunk ihrer Programme gestellt haben, als wären die ersten drei Festivals nur Probeläufe gewesen, um dann bei dem vierten mit dem eigentlichen Anliegen herauszurücken, als hätten sie erst einmal Hunde ins Weltall geschickt, ehe sie einen benannten Raumflug wagten? Nein. So war es nicht. Umgekehrt. Gerade die ersten Festivals verdienen verschärfte Aufmerksamkeit – besonders dann, wenn man sie als Beispiele für eine Protestkultur vorzeigen will.

 

 

Die wunderbaren Pfeifkonzerte

 

Das erste Festival, bei dem es noch enorme Widerstände gab, war allein schon dadurch ein Erfolg, dass es stattgefunden hatte und keine Pleite war. Ganz reibungslos war es auch nicht. Bill Clifton mit seinen Echo Mountain Boys war als Attraktion geplant, wurde aber ausgepfiffen, weil er ungebrochen patriotisch wirkte und langweilte. Er hielt das für ein Pfeifen im amerikanischen Stil und missverstand es als Zugabenwunsch. Tucker Zimmerman, der auch nicht gut ankam, warf verärgert seinen Gitarrenkasten von der Bühne. So wirkte das Publikum auf seine Art von Anfang an bei der Programmgestaltung mit.

 

Beim zweiten Festival 1976 geschah es dann. Hier müsste jeder, der sich für Protestbewegungen interessiert, aufhorchen und mitschreiben, doch ausgerechnet an dieser Stelle lässt die Ausstellung eine Lücke. Was geschah? Es gab eine spontane, nicht angemeldete Demonstration, die sich von der Bühne im Schlosshof bis in die Uhlandstraße hin zum Schwäbischen Tagblatt bewegte und gegen Repression und Berufsverbote protestierte. Na bitte: Es gab echten Protest. Im richtigen Leben. Die Ausstellung weiß nichts davon.

 

Der Protest brachte uns in Verlegenheit. Wir hatten die Geister, die wir gerufen hatten, nicht im Griff. Wir mussten deutlicher werden. Ein Bloch-Zitat, so dekorativ es auch in den Mittelpunkt des Plakates gerückt war, reichte offenbar nicht aus. Wir mussten konkrete Themen vorgeben. Sonst würde es das Publikum tun. Wir mussten Redner besorgen, sonst würde jemand aus dem Publikum das Wort ergreifen. Das Publikum ist sowieso ein Lümmel. Es ist unberechenbar. Hinzu kommt, dass die Gelegenheit eine äußerst empfindliche Diva ist. Wenn man mit ihr ein Rendezvous hat, darf man sich nicht verspäten. Der Veranstalter, der Neuland betritt, ähnelt einem Dompteur, der es mit mehreren unbekannten Raubtieren zu tun hat.

 

Wir hatten Glück. Die Sterne standen günstig. Der Weltgeist lächelte. Es gab zwei oder drei goldene Festival-Jahre – das war’s. Es war wie ein Blitz, der punkt- und zeitgenau niedergeht, wenn die Wolken entsprechend aufgeladen sind. Wir konnten die Wolken natürlich nicht lenken, lebten aber in der Illusion, dass es letztlich doch der einzelne ist, der zumindest ein bisschen an dem Rad der Geschichte drehen kann und nicht bloß mitschwimmt auf einer Welle, die sowieso kommt. Viel konnten wir nicht machen.

 

Wir hatten aber schon Wegweiser aufgestellt, nun kam es – was immer es auch war – auf Tübingen zugerollt. Die Besucher strömten herbei und erwarteten ein Wunder. Gleichwohl waren sie bereit, sich selbst und die Veranstalter als Einheit zu sehen. Wir waren wie sie. Wir waren alle Jungfrauen. Von Festival zu Festival verdoppelte sich der Besucherstrom. So wurden die Festivals überhaupt erst möglich. Es gab Einnahmen. Zuschüsse waren noch nicht entscheidend. Finanziert wurde das Unternehmen hauptsächlich durch Selbstausbeutung. Natürlich geht das nur eine Zeit lang gut. Der Lohn für die Mitarbeiter entsprach dem olympischen Gedanken: Dabeisein war alles.

 

Es war ein alter Traum der Veteranen der Burg Waldeck, den legendären Pete Seeger – die Verkörperung des Liedermachers und Folksängers in einer Person – ­in die Büsche zu locken. Eckard Holler war so ein Träumer, doch er gehörte gleichzeitig zu den Spielverderbern, die lieber diskutieren und die Gitarren in die Ecke stellen wollten. Er wollte unbedingt mit dem politischen Feuer der Gegenwart spielen und kehrte immer wieder gerne zum Lagerfeuer seiner jugendbewegten Vergangenheit zurück. So einer war er. Darauf kam es an. Das sind die entscheidenden, subjektiven Faktoren, die letztlich die Dinge in Bewegung, die Verhältnisse zum Tanzen bringen.

 

Die Festivals wurden durch die Verstrickungen, Vorlieben und Irrtümern von einzelnen möglich. Durch Freimut und Feuer. Die Veranstalter waren genau solche Einzelkämpfer, wie es die Liedermacher waren, die auf ihrem Eigensinn beharrten und sich zugleich danach sehnten, irgendwo dazuzugehören.

 

Kleine Anekdoten aus der Geschichte der Festivals enthalten mehr Wahrheit als die klapperige Begrifflichkeit aus der Broschüre. Wir wollten Pete Seeger nach Tübingen holen. Also brachen Eckard, Gretel, (der damals nicht einmal einjährige) Lasse Holler und ich nach Italien auf, um ihn da zu treffen. Pete Seeger hatte jedoch in seinem Brief an uns Turin mit Mailand verwechselt. So stießen wir auf die dortige Musikszene, von der wir zunächst auch nicht wussten, was wir davon halten sollten.

 

Wir konnten nicht ahnen, dass die Italiener schon bald zu einem besonderen Kennzeichen der Festivals wurden – mit Stormy Six/Macchina Maccheronica, Quarto Stato und dem Ensemble Havadia, das sich zunächst Gruppo Folk Internationale nannte. Damit führte zwar die ganze Bagage um Moni Ovadia noch das Zauberwort „Folk“ im Namen, doch letztlich führte gerade die Invasion der Italiener dazu, dass die Folkmusik zu einer Randerscheinung wurde. Es kam also, wie Wilhelm Busch sagen würde, erstens anders und zweitens als gedacht.

 

In seinem neuen Programm verwendete Moni Ovadia Zitate aus der deutschen Nationalhymne. Er wurde sofort ausgepfiffen. Er war nicht sicher, ob die Pfiffe reflexhaft der Hymne galten oder seinen neuen Mini-Opern, die er gerade ausprobierte und die nicht leicht zu verstehen waren. Er konnte damit umgehen. Als Künstler musste er sowieso mit Widersprüchen und Überraschungen leben.

 

So ist die Kunst. So ist das Leben. So hat auch Umberto Fiori in dem Lied vom Pfeifkonzert besungen: „Quando meno te lo aspetti/ è scoppiata la realtà,/ è l’orchestra dei fischietti che dà la sveglia alla città“. Das hat jeder spontan verstanden. Es hat auch jeder sofort gemerkt, dass hier die Grundlegung der Dialektik Hegels zeitgemäß zum Klingen gebracht und mit Dynamik versehen wurde, „Niente resta uguale a se stesso,/ la contraddizione muove tutto.“ *

 

An der Mauer beim Hölderlinturm stand damals der Spruch: „Der Tag ist 24 Stunden lang, aber verschieden breit.“ Eben. Manchmal gibt es extrabreite Momente. Bei dem Festival des Jahres 1977 tanzten Hölderlin, Hegel und Schelling um einen Freiheitsbaum und sangen revolutionäre Lieder wie die Carmagnole. Moment … ich muss mich berichtigen, es war nicht etwa – kleiner Zahlendreher – im Jahre 1977, sondern 1799, genau gesagt 1791. Das Festival des Jahres 1977 wollte an diesen Augenblick erinnern, und – wer weiß? – vielleicht hatte Hölderlin bei der Gelegenheit seinem Tanzpartner Hegel die Idee von der Einheit der Gegensätze, die auf Heraklit zurückgeht – und die auch das Festivalprogramm kennzeichnet –, nahegebracht.

 

Von all dem erzählt die Ausstellung nicht. Sie erzählt aber, dass gestrickt und besetzt und blockiert wurde. In Tübingen. In den 70er oder 80er Jahren. Es passt ja auch, so mag man zunächst einmal denken (wenn man nicht lange weiterdenkt), gut zu den Liedermachern mit ihren selbstgestrickten Liedern und ihren temperaturempfindlichen Gitarren, die sie ständig nachstimmen mussten. Es hat irgendwie mit Alltagskultur zu tun. Irgendwie irgendwo irgendwas hat es auch mit Protest zu tun. Das kann man gut zusammenfassen.

 

 

Protest im Zeichen der Gleichstellung

 

Pustekuchen! Es passt nur, wenn man alles vorher in die große Waschmaschine der Gleichstellung gesteckt hat, die nicht nur alles einfärbt, sondern auch alle Wäschestücke auf ein und dieselbe Größe zusammenschrumpfen lässt. So macht es die Ausstellung: Wenn es um die Festivals geht, wird das Protest-Element klein geredet, wenn es ums Stricken geht, wird es aufgemotzt. Nun hängt alles nebeneinander auf einer Leine, als wäre es alles gleichermaßen bedeutend, alles gleich gültig, alles gleichgütig. Schon die zwanghafte Gleichstellungs-Prosa, in der das Begleitheft verfasst ist, mit den verkrampften „Besucher_innen“ mit Unterstrich, den „Studierenden“ und den „Mitarbeitenden“ (die eigentlich „mitgearbeitet Habende“ heißen müssten, denn nun ist es Vergangenheit) ist bezeichnend. So werden nicht nur die Zeiten platt gebügelt, auch die Wertigkeiten werden eingeebnet.

 

Zum Stricken selber kann ich nichts sagen. Ich wurde, als ich noch zur Schule ging, massiv diskriminiert. Immer wenn die Handarbeitslehrerin kam, wurde ich ausgesperrt. Mir wurde allein aufgrund meines Geschlechts der Zugang zur Bildung (zumindest der Zugang zur Bildung von selbstgestrickten Schals und Pullovern) verweigert. Auch wenn ich wütend mit dem Fuß aufgestampft und bitterlich geweint habe: Ich durfte nicht stricken und nicht häkeln. Dabei ist es geblieben. Die Strickenden mussten also ohne mich ihren Triumphzug antreten, als sie seinerzeit mit den Grünen in den Bundestag einzogen und demonstrativ ihre Nadeln in die weiche Wolle rammten. Zu dem Thema hatte ich bereits vor Jahren ein Gedicht und einen Text auf der Achse geschrieben. Nun gibt es dazu obendrein einen Clip:

 

Es wurde also nicht nur gesungen im Ländle: Gestrickt, besetzt und blockiert wurde in Tübingen auch – mit der Betonung auf dem verräterischen Wörtchen „auch“. Das kenne ich noch: In der DDR gab es auch Cola, sie hieß Club-Cola, es gab auch Jeans, die so genannten Jeanshosen, es gab auch Beatmusik (die Sputniks, die Dampferband und das Diana Show Quartett), es gab auch Autos, man nannte sie korrekterweise Trabbis. In Tübingen gab es auch Protest ­– den „auch-Protest“.

 

Man höre und staune: In Tübingen wurde auch ein Haus besetzt so wie in Westberlin oder an anderen Orten, an denen richtig was los war. Wer hätte das gedacht? Nun wissen wir es. Das Stadtmuseum zeigt es. Der großzügige und zugleich schlampige Ansatz der Ausstellung, bei der zwei Jahrzehnte über einen großen Kamm mit dicken Zacken geschoren wurden, legt einen gnädigen Schleier über die Peinlichkeit dieser unzeitgemäßen und unbedarften Protestaktionen aus der Provinz.

 

Es gab in Tübingen sogar eine Frauenbewegung. Auch das noch. Da wurde heftig gegen das Sammeltaxi, mit dem die ängstlichen Frauen nicht einverstanden waren, protestiert. Dazu gab es auch ein Transparent. Mit einem echten, selbstgemachten Spruch; denn reimen konnten die Frauen in den siebziger Jahren auch: „Sammeltaxi, das ist fein -/ der Vergewaltiger steigt mit ein.“

 

Was ist peinlich? Peinlich ist das Unpassende, das nicht zur rechten Zeit am rechten Ort ist. Dabei kann die Verzögerung als Gradmesser dienen: Wenn ich im Januar „Oh-du-fröhliche“-singend mit einem Weihnachtsmannkostüm durch die Stadt laufe, ist das peinlich, wenn ich es im Februar tue, ist es noch peinlicher. Wenn ich es im Mai tue, wird es langsam komisch.

 

Und nun? Nun stehen die Besucherinnen und Besucher staunend vor einer Matratze, auf der in den siebziger oder achtziger Jahren angeblich ein echter Hausbesetzer geschlafen hat, sie stehen vor einer historischen Waschmaschine, in der angeblich eine Latzhose eingefärbt wurde, um die Alltagskultur zu revolutionieren und sehen tatsächlich – sie trauen ihren Augen kaum – einen echten, selbstgestrickten Pullover. So soll Protest sinnlich erfahrbar gemacht werden. Mir blieb das Lachen im Hals stecken.

 

Als in Tübingen irgendwann etwas gestrickt, etwas blockiert und sogar ein Häusle besetzt wurde, wurde damit lediglich etwas nachgemacht, was andere Aktivisten an prominenten Orten spektakulär vorgemacht hatten. Bei den Festivals war es umgekehrt: Für Folkies und Liedermacher war Tübingen eine Zeit lang der prominente Ort, zu dem sie anreisten. Die Stricker, Blockierer und Besetzer dokumentieren eindrucksvoll, dass Tübingen ein beschauliches Provinznest ist. Die Festivals dagegen haben einen Wimpernschlag lang Tübingen zu einem Weltdorf gemacht. Die Stricker, Blockierer und Besetzer haben etwas nachgespielt. Die Folkies und Liedermacher haben etwas vorgespielt.

 

Ich kann übrigens auch Zweizeiler stricken. So wie die protestierende Frauen in Tübingen. Nicht ganz so fein, aber mein. Noch so richtig selber gemacht – echt jetzt. Es reimt sich auch. Mein Zweizeiler als Kommentar zur Interventionsausstellung – und zugleich als Protest dagegen – geht so:

 

 

„Kommt ein Protest zur falschen Zeit,

   besteht er nur aus Peinlichkeit“.

 

 

* Um solche Musik ging es. Die lag bei den frühen Festivals in der Luft. Der Text wurde natürlich übersetzt: „Gerade wenn du es am wenigsten erwartest,/ geht die Wirklichkeit los:/ es ist das Pfeifkonzert,/ das die ganze Stadt aus dem Schlaf rüttelt.// Es weckt mit seinen Trommeln,/ niemand soll noch länger schlafen,/ es schreibt rot auf die Mauern,/ es teilt die Welt entzwei.// Das ist kein Chor von Erzengeln/ auf dem Fließband:/ es hüpft und pfeift/ mit der Kraft der Träume,/ mit der Einfachheit der Bedürfnisse.// Nichts bleibt sich gleich:/ der Widerspruch bewegt alles.“

Comments are closed.